Entscheidungsstichwort (Thema)
Anfechtung einer Ausschlagungserklärung wegen Irrtums über verkehrswesentliche Eigenschaft
Leitsatz (amtlich)
Die Überschuldung eines Nachlasses ist nicht als verkehrswesentliche Eigenschaft anzusehen. Denn der Wert ist anders als die wertbildenden Faktoren keine Eigenschaft einer Sache im Sinne von § 119 Abs. 2 BGB. Die irrtümliche Vorstellung über eine Überschuldung ist vielmehr im Rahmen der Kausalitätsprüfung zu berücksichtigen.
Normenkette
BGB § 119 Abs. 2, § 1954
Tenor
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.
Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 1) wird der Beschluss des Amtsgerichts Stadt1 - Nachlassgericht - vom 09.08.2023 abgeändert:
Die für die Erteilung des von der Beteiligten zu 1) am 21.03.2022 beantragten Erbscheins erforderlichen Tatsachen werden für festgestellt erachtet. Das Amtsgericht wird angewiesen, einen entsprechenden Erbschein zu erteilen.
Der Erbscheinsantrag des Beteiligten zu 2) wird zurückgewiesen.
Von der Erhebung von Gerichtskosten im Beschwerdeverfahren wird abgesehen. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Gründe
I. Die am XX.XX.2021 verstorbene Erblasserin war geschieden. Die Beteiligte zu 1) ist ihre Tochter. Der Beteiligte zu 2) ist ein Großneffe der Erblasserin. Eine letztwillige Verfügung hinterließ die Erblasserin nicht.
Mit notariell beurkundeter Erklärung vom 07.07.2021 (Bl. 5 d.A.) schlug die Beteiligte zu 1) die Erbschaft nach ihrer Mutter aus allen Berufungsgründen aus. Mit gerichtlich protokollierter Erklärung vom 17.08.2021 (Bl. 57 d.A.) schlug Herr Vorname1 A, Bruder der Erblasserin, die Erbschaft aus. Dessen Töchter B und Vorname2 A erklärten die Ausschlagung der Erbschaft am 24.09.2021 und 29.09.2023 (Bl. 64 und 66 d.A.).
Mit Beschluss vom 23.11.2021 (Bl. 73 d.A.) ordnete das Nachlassgericht gemäß § 1960 BGB für die unbekannten Erben Nachlasspflegschaft an und bestellte Herrn D zum Nachlasspfleger.
Mit notariell beglaubigter Urkunde vom 21.03.2022 (Bl. 84 d.A.) hat die Beteiligte zu 1) die Ausschlagung der Erbschaft angefochten. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass sie bei der Ausschlagung davon ausgegangen sei, dass im Nachlass kein Aktivvermögen sei. Aufgrund der Alkoholkrankheit der Erblasserin sei sie nicht bei dieser aufgewachsen und habe zu ihr seit etwa ihrem elften Lebensjahr keinen Kontakt mehr. Am 17.06.2021 sei sie vom Tod der Erblasserin und den Todesumständen informiert worden. Die zuständige Kriminalbeamtin habe ihr berichtet, dass die Wohnung der Erblasserin in einem chaotischen und unaufgeräumten Zustand gewesen sei und habe ihr auf Nachfrage mitgeteilt, dass sich die Wohnung nicht in der besten Wohngegend befinde. Nach Internetrecherchen habe die Beteiligte zu 1) festgestellt, dass die Adresse hinter dem Bahnhof liege. Aufgrund der schlimmen Kindheitserfahrungen sei sie davon ausgegangen, dass ihre Mutter abgerutscht sei und im sozialen Brennpunkt gelebt haben müsse. Daraufhin habe sie die Erbschaft ausgeschlagen. Erst durch das Schreiben des Nachlasspflegers vom 07.02.2022, das bei ihr am 25.02.2022 eingegangen sei, habe sie davon Kenntnis erhalten, dass es neben Mietschulden und Bestattungskosten ein Girokonto und Sparbuch mit Guthaben in Höhe von insgesamt 72.077,87 Euro gebe. Weil ihr insbesondere das Girokonto und das Sparbuch nicht bekannt gewesen seien, habe sie sich über die Zusammensetzung des Nachlasses im Irrtum befunden. Aufgrund der Alkoholerkrankung der Mutter, des chaotischen und unaufgeräumten Zustands ihrer Wohnung und des von ihr als problematisch eingestuften Wohnviertels habe sie sich nicht vorstellen können, dass ihre Mutter überhaupt über Geldvermögen verfüge.
Mit notarieller Urkunde vom 21.03.2022 (Bl. 87 d.A.) hat die Beteiligte zu 1) einen Alleinerbschein aufgrund gesetzlicher Erbfolge beantragt und sich hierfür auf die Anfechtung ihrer Erbschaftsausschlagung gestützt.
Diesem Erbscheinsantrag ist der Beteiligte zu 2) entgegengetreten (Bl. 102 d.A.). Er ist der Auffassung gewesen, dass die Anfechtung der Erbausschlagung unwirksam sei, weil die Beteiligte zu 1) die Erbschaft bewusst ausgeschlagen habe und daher kein Irrtum vorliege. Auch habe die Beteiligte zu 1) niemand bedrängt oder getäuscht. Außerdem sei deutlich geworden, dass die Beteiligte zu 1) nichts habe von der Erblasserin wissen wollen und keine Bindung zu dieser habe, so dass die Anfechtung auch aus moralischen Gründen bedeutungslos sei. Der Aufwand der Beteiligten zu 1) sei minimal gewesen. Stattdessen habe sie andere die Räumung der Wohnung und Beerdigung erledigen lassen.
Mit notarieller Urkunde vom 03.07.2023 (Bl. 184 d.A.) hat der Beteiligte zu 2) einen Alleinerbschein zu seinen Gunsten aufgrund gesetzlicher Erbfolge beantragt. Hierfür hat er sich auf die Ausschlagungserklärung der Beteiligten zu 1) gestützt, die er für wirksam hält. Für die Begründung im Einzelnen wird auf Bl. 184 f. d. A. verwiesen.
Mit dem angefochtenen Beschluss vom 09.08.2023 (Bl. 187 d. A.) hat das Nachlassgericht die für die Erteilung des von dem Betei...