Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Frage, ob Vollstreckungsmaßnahmen eines Vollstreckungsorgans Rechtshandlungen i.S.v. § 129 Abs. 1 InsO darstellen können
Normenkette
InsO § 129
Verfahrensgang
LG Frankfurt am Main (Urteil vom 31.10.2022; Aktenzeichen 2-4 O 317/21) |
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt a. M. vom 31.10.2022 - Einzelrichter -, Az. 2/4 O 317/21, abgeändert und der Beklagte verurteilt, an den Kläger 73.809,02 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 46.009,02 EUR seit dem 14.10.2021 sowie aus 27.800 EUR seit 25.01.2022 zu zahlen.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
A. Der Kläger nimmt den Beklagten auf Erstattung von 16 Zahlungen auf Steuerverbindlichkeiten in Anspruch.
Der Kläger ist Insolvenzverwalter der X GmbH mit Sitz in Stadt1 (nachfolgend: Schuldnerin). Bis zum 21.12.2015 wurde die Gesellschaft als Unternehmergesellschaft (haftungsbegrenzt) mit einem Stammkapital von unter Tausend Euro betrieben (Bl. 177 und 214 d. A.). Über deren Vermögen wurde auf einen Fremdantrag vom 06.02.2018 durch Beschluss des Amtsgerichts Stadt1 am 11.07.2018 das Insolvenzverfahren eröffnet. Das beklagte Land vereinnahmte die Umsatz-, Lohn- und Körperschaftsteuer der Schuldnerin.
Der Beklagte vollstreckte bzw. versuchte seit Februar 2013 Steuerforderungen wie folgt einzutreiben:
15.02.2013 |
2.654,34 EUR |
Barzahlung an den Vollziehungsbeamten, Bl. 122 d. A. |
25.02.2013 |
4.689,89 EUR |
Barzahlung an den Vollziehungsbeamten, Bl. 123 d. A. Zahlungsaufforderung des FA Stadt1 vom 25.02.2013 wegen "Rückständen" |
21.03.2013 |
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Mitteilung des Regierungspräsidiums Stadt2. Einleitung des Gewerbeuntersagungsverfahrens auf Anregung des FA Stadt2. Grund: "Zahlungs- und Mitwirkungspflichten nicht erfüllt", "Zahlungsrückstände 13.691,62 EUR", "Betreibungsversuche ganz oder überwiegend erfolglos gewesen", Bl. 43 d. A. Das Verfahren wurde später eingestellt, Bl. 77. |
04.2013 |
3.259,97 EUR |
Pfändung durch ein hessisches Finanzamt, Bl. 8, 175 d. A. |
05.2013 |
2.302,37 EUR |
Pfändung durch ein hessisches Finanzamt, Bl. 8, 175 d. A. |
22.07.2013 |
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Vollstreckungsankündigung des FA Stadt3 über 22 EUR, Bl. 8, 85, 175 d. A. |
19.09.2013 |
5.442,82 EUR |
Pfändung durch ein hessisches Finanzamt wegen Umsatzsteuer für April und Mai 2013, Bl. 8, 175 d. A. |
11.2013 |
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Land setzt Zwangsgelder wegen Nichtabgabe der Körperschaft-, Umsatz- und Gewerbesteuer für 2012 fest, Urteil S. 2 |
01.2014 |
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Land setzt Zwangsgelder wegen Nichtabgabe der Körperschaft-, Umsatz- und Gewerbesteuer für 2012 fest, Urteil S. 2 |
24.02.2014 |
1.934 EUR |
Erste angefochtene Zahlung, Bl. 4 d. A. |
01.04.-30.09.2014 |
rund 17.000 EUR |
Sechs angefochtene Zahlungen |
10.02.2015 |
2.472 EUR |
Rückständige Umsatzsteuer. Von nun an nahezu jeden Monat weitere Rückstände zwischen ca. 1.500-3.800 EUR, Bl. 128 d. A. |
17.02.2015 |
1.602,96 EUR |
Angefochtene Zahlung |
25.06.2015 |
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Gläubigerantrag der Y auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens wegen einer Forderung von 5.164,43 EUR. Rückständige Pflichtbeiträge 01.03.2014-31.05.2015, Bl. 37 d. A. Gläubigerantrag wurde nach Bezahlung für erledigt erklärt. |
20.07.2015 |
7.800 EUR |
Angefochtene Barzahlung an den Vollziehungsbeamten ("Quittung" für "Einzahler"), übergeben vom Geschäftsführer, Bl. 126, 207 d. A. |
24.09.2015 |
12.000 EUR |
Angefochtene Barzahlung an Vollziehungsbeamten, übergeben vom Geschäftsführer |
14.10.2015 |
410,25 EUR |
Zahlung |
22.10.2015 |
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Aufstellung der Rückstände durch das FA Stadt1: 24.381,54 EUR, Bl. 128 d. A. |
22.10.2015 |
8.000 EUR |
Angefochtene Barzahlung an Vollziehungsbeamten ("Quittung" für "Einzahler"), übergeben vom Geschäftsführer, Bl. 127 d. A. Sodann blieben von 24.381,54 EUR abzüglich 8.000 EUR noch 16.381,54 EUR offen. |
21.12.2015 |
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Wechsel von der UG (haftungsbeschränkt) zur GmbH |
13.01.2016 |
512,26 EUR |
Angefochtene Zahlung |
22.01.2016 |
20.191,39 EUR |
Angefochtene Zahlung |
04.03.2016 |
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Ab 04.03.2016 Säumniszuschläge, etwa monatlich, jeweils einige Hundert Euro, Bl. 91 ff. d. A. |
13.04.2016 |
1.689,39 EUR |
Angefochtene Zahlung |
15.08.2017 |
1.110,04 EUR |
Letzte angefochtene Zahlung, Bl. 5 d. A. |
06.02.2018 |
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Eröffnungsantrag |
Der Kläger behauptet, dass die Schuldnerin im Zeitpunkt der ersten Zahlung am 24.02.2014 und allen späteren angefochtenen Zahlungen zahlungsunfähig gewesen sei. Die Zahlungsunfähigkeit sei nach § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO zu vermuten, da die Schuldnerin die Zahlungen an das beklagte Land eingestellt habe. Die in der Insolvenztabelle genannten Forderungen - insbesondere Forderungen auf Sozialversicherungsbeiträge verschiedener Krankenkassen - seien am 24.02.2014 allesamt fällig gewesen und bis zur Insolvenzverfahrenseröffnung nicht bezahlt worden. Die tr...