Leitsatz (amtlich)
1.
Bei Strafgefangenen, die sich in ärztlicher Behandlung befinden, ist gemäß
§ 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG der Anstaltsarzt vor jeder Anordnung einer Disziplinarmaßnahme zu hören.
2.
§ 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG ist keine bloße Ordnungsvorschrift, sondern dient dem Schutz der Gesundheit des Strafgefangenen. Die ohne Anhörung des Anstaltsarztes angeordnete Disziplinarmaßnahme ist rechtswidrig.
Verfahrensgang
LG Hamburg (Entscheidung vom 18.11.2003) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Landgerichts Hamburg - Große Strafkammer 9 - vom 18.11.2003 wird als unbegründet verworfen.
Die Beschwerdeführerin trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdegegners.
Der Gegenstandswert wird auf 500 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Parteien streiten über die Rechtmäßigkeit der Anordnung einer - inzwischen vollzogener - Disziplinarmaßnahme.
Der Beschwerdegegner verbüßt eine mehrjährige Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt (JVA) der Beschwerdeführerin.
Am 08.01.03 verhängte die JVA gegen den Beschwerdegegner als Disziplinarmaßnahme einen zweitägigen Freizeitarrest mit Fernsehverbot, weil in seinem Haftraum ein zum Drogenkonsum geeignetes Rauchgerät gefunden worden war. Obwohl der Beschwerdegegner sich zu dieser Zeit wegen einer Herzerkrankung in ärztlicher Behandlung befand und außerdem am 03.01.03 wegen einer schmerzhaften Zahnwurzelentzündung zum Arzt angemeldet hatte, ordnete die JVA die Disziplinarmaßnahme an, ohne zuvor den Arzt anzuhören. Die Maßnahme wurde am 11. und 12.01.03 vollstreckt.
Das Landgericht hat auf Antrag des Beschwerdegegners mit Beschluss vom 18.11.03 festgestellt, dass die Disziplinaranordnung vom 08.01.03, rechtswidrig ist, weil die nach § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG gebotene Anhörung des Anstaltsarztes vor Erlass der Disziplinarmaßnahmen unterblieben war. Nach Auffassung des Landgerichts handelt es sich dabei nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift ohne Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung. Aus dem Gedanken des § 46 VwVfG, der auch auf das Strafvollzugsgesetz Anwendung finde, ergebe sich, dass grundsätzlich auch bei Verletzung von Verfahrensvorschriften die Aufhebung der Entscheidung beansprucht werden könne; lediglich wenn es sich um eine gebundene Entscheidung handele oder das Ermessen der Behörde ausnahmsweise auf Null reduziert sei, gelte etwas anderes. Beides sei im vorliegenden Fall aber nicht gegeben.
Die Beschwerdeführerin hat mit fristgerecht eingelegter Rechtsbeschwerde diese Entscheidung angegriffen und beantragt,
den Beschluss des Landgerichts aufzuheben.
Sie ist der Auffassung, die Disziplinarentscheidung sei rechtmäßig gewesen. Aus der systematischen Stellung des § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG ergebe sich, dass die Anhörung des Arztes nur in den in § 106 Abs. 2 Satz 1 StVollzG genannten Fällen schwerer Disziplinarverstöße vorgeschrieben sei, der hier nicht gegeben war. Im übrigen diene § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG nur dem Zweck, den Kenntnisstand des Anstaltsleiters über den Gesundheitszustand des Gefangenen zu erweitern. Im vorliegenden Fall habe es dessen nicht bedurft, weil der Anstaltsleiter über den Gesundheitszustand des Gefangenen bereits umfassend informiert gewesen sei. Schließlich habe es sich bei der verhängten Disziplinarmaßnahme um eine besonders milde gehandelt, die auf die persönliche Situation des Gefangenen abgestimmt und - auch aus medizinischer Sicht - offensichtlich zumutbar und verhältnismäßig gewesen sei. Auch aus dem Rechtsgedanken des § 46 VwVfG ergebe sich die Rechtmäßigkeit der Disziplinarentscheidung. Denn die vorherige Anhörung des Arztes hätte die Entscheidung des Anstaltsleiters offensichtlich nicht beeinflusst.
Der Beschwerdegegner beantragt,
die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen.
Der ohne ärztliche Anhörung angeordnete Wochenendverschluss und das Fernsehverbot seien empfindliche Diziplinarmaßnahmen, die die Gesundheit des Beschwerdegegners massiv gefährdet hätten.
II.
1.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Die Überprüfung der Entscheidung des Landgerichts ist zur Fortbildung des Rechts - Auslegung des § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG geboten, § 116 Abs. 1 StVollzG.
2.
Die Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht dem Feststellungsantrag stattgegeben, weil die beanstandete Disziplinarmaßnahme rechtswidrig war. Die JVA hat die Maßnahme unter Verletzung von § 106 Abs. 2 StVollzG angeordnet und vollstreckt.
a)
Der Feststellungsantrag ist nach § 115 Abs. 3 StVollzG zulässig, weil sich die Disziplinarmaßnahme am 12.01.03 durch Vollstreckung erledigt hat und Wiederholungsgefahr besteht. Es ist zu befürchten, dass ohne gerichtliche Feststellung die Beschwerdeführerin weiterhin gegen den Beschwerdegegner, wenn er sich in ärztlicher Behandlung befindet, Disziplinarmaßnahmen ohne vorherige Anhörung des Anstaltsarztes erlässt.
b)
Der Feststellungsantrag ist auch begründet. Nach § 106 Abs. 2 Satz 2 StVollzG ist vor der Anordnung einer Disziplinarmaßna...