Leitsatz (amtlich)
Verhandelt das Berufungsgericht in Abwesenheit des Angeklagten zur Sache, anstatt die Berufung gemäß § 329 Abs. 1 StPO zu verwerfen, eröffnet dies nicht ohne Weiteres die Rüge des § 338 Ziff. 5 StPO
Verfahrensgang
LG Köln (Entscheidung vom 02.03.2022) |
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Köln vom 2. März 2022 wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Köln hat den Angeklagten am 26. Mai 2021 wegen Beleidigung in zwei Fällen zu der Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10,00 Euro verurteilt. Auf seine hiergegen gerichtete Berufung hat das Landgericht Köln das amtsgerichtliche Urteil dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte unter Einbeziehung einer Vorverurteilung zu der Gesamtgeldstrafe von 110 Tagessätzen zu je 10,00 Euro verurteilt worden ist.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der dieser allgemein die Verletzung sachlichen Rechts rügt und als Verletzung des Verfahrensrechts beanstandet, dass er in der Hauptverhandlung nicht anwesend gewesen sei.
II.
Das Zulässigkeitsbedenken nicht unterliegende Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
1.
Die Verfahrensrüge des § 338 Ziff. 5 StPO ist bereits nicht in zulässiger Weise ausgeführt.
a)
Ihr liegt das folgende Verfahrensgeschehen zugrunde:
Für den Angeklagten hatte sich im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2021 Rechtsanwalt A als Verteidiger bestellt und angekündigt, in Kürze eine Vollmacht nachreichen zu wollen. Mit Beschluss vom 10. November 2021 ist er auf seinen Antrag zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt worden.
Im Termin zur Berufungshauptverhandlung vom 2. März 2022 war der Angeklagte nicht anwesend. Die Berufungshauptverhandlung ist durchgeführt worden, nachdem der Verteidiger eine Vollmacht vom 27. Oktober 2021 vorgelegt hatte.
b)
Die Rüge genügt nicht den aus § 344 Abs. 2 S. 2 StPO sich ergebenden Begründungsanforderungen.
aa)
Richtig ist zwar, dass ohne den Angeklagten eine Sachverhandlung nicht durchgeführt werden durfte. Mit der Beiordnung des bisherigen Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger endet nämlich - entsprechend § 168 BGB - das Mandat. Bei fortbestehendem Willen des Angeklagten, sich von dem nunmehrigen Pflichtverteidiger vertreten zu lassen, ist die Erteilung einer neuen, den Anforderungen des § 329 StPO genügenden Vollmacht vonnöten (SenE v. 15.04.2016 - III-1 RVs 55/16 -; SenE v. 08.07.2016 - III-1 RVs 129/16; SenE v. 27.08.2021 - III-1 RVs 124/21 -). An einer solchen, nach Pflichtverteidigerbestellung erfolgten Bevollmächtigung fehlt es hier. Der Pflichtverteidiger durfte daher den Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung nicht vertreten; seine Anwesenheit war nicht deswegen entbehrlich, weil er wirksam vertreten war.
bb)
Dieser Umstand für sich genommen begründet freilich die erfolgreiche Rüge des § 338 Ziff. 5 StPO noch nicht.
(1)
§ 338 Ziff. 5 StPO sichert die Einhaltung derjenigen Vorschriften ab, die das Anwesenheitsrecht des Angeklagten, seine Teilnahme an der (Berufungs)Hauptverhandlung garantieren - namentlich hier die Vorschrift des § 230 Abs. 1 StPO (MüKo-StPO-Knauer/Kudlich, § 338 Rz. 84 m. N.). Die Vorschriften über die Anwesenheit des Angeklagten ihrerseits dienen der Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und gewährleisten seine allseitige und umfassende Verteidigung (Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 65. Auflage 2022, § 230 Rz. 3). Eine Verhandlung ohne den Angeklagten birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils (vgl. SenE v. 05.10.2010 - III-1 RVs 179/10 -; SenE v. 21.06.2011 - III-1 RVs 145/11 -; SenE v. 22.11.2011 - III-1 RVs 275/11 -; SenE v. 12.03.2013 - III-1 RVs 21/13; SenE v. 06.03.2020 - III-1 RVs 38/20 -).
(2)
Hätte die Berufungsstrafkammer aus dem Umstand, dass die Pflichtverteidigerbestellung nach Erteilung der Vollmacht erfolgt war, die zutreffenden prozessualen Konsequenzen gezogen, hätte sie die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 StPO ohne weitere Sachprüfung als unbegründet verwerfen müssen.
(3)
Der oben skizzierte Zweck des § 338 Ziff. 5 StPO würde in sein Gegenteil verkehrt, wollte man annehmen, dass die Voraussetzungen dieser Vorschrift durch die Verfahrensweise der Berufungsstrafkammer erfüllt würden. Denn dadurch, dass die Berufungsstrafkammer in eine Sachverhandlung eingetreten ist, ist dem Angeklagten ein Mehr an rechtlichem Gehör zugewachsen, als dies im Falle der Berufungsverwerfung gemäß § 329 Abs. 1 StPO der Fall gewesen wäre. Der mit einer Vertretungsvollmacht ausgestattete Verteidiger gibt nämlich Erklärungen so ab, als rührten diese vom Angeklagten selbst her (s. nur OLG Hamm B. v. 24.11.2016 - 5 RVs 82/16 = BeckRS 2016, 111318 Tz. 19). Er kann damit - wie der Angeklagte selbst im Falle seiner Anwesenheit - Einfluss auf den Gang der Berufungshauptverhandlung und die Entscheidung des Gerichts nehmen.
Diese schon generell gegebene Möglichkeit der Einflussnahme aufgrund der Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs durch den - s...