Leitsatz (amtlich)
1. Der Begriff "ärztliche Bescheinigung" in § 3 Abs. 2 Nr. 2 CoronaVO in der ab dem 12. Dezember 2020 gültigen Fassung kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass die Vorlage eines qualifizierten ärztlichen Attests mit Angaben dazu erforderlich ist, welche konkrete gesundheitliche Beeinträchtigung vorliegt und warum sich hieraus eine Befreiung von der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung ergibt.
2. Sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass eine vorgelegte ärztliche Bescheinigung inhaltlich unrichtig ist oder ohne eine vorangegangene ordnungsgemäße Untersuchung erstellt wurde, sind die Bußgeldbehörden berechtigt, Nachforschungen anzustellen. Für das Gericht kann sich aus § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG sogar eine Pflicht hierzu ergeben.
3. Derartige Anhaltspunkte können sich im Einzelfall bereits daraus ergeben, dass der betreffende Arzt für auffällig viele Patienten Bescheinigungen ausgestellt hat oder wenn Erkenntnisse vorliegen, wonach die jeweilige Praxis etwa in sozialen Netzwerken, in Chat-Gruppen oder über anderweitige Quellen empfohlen wird, weil man dort schnell und ohne Nachfragen eine Maskenbefreiung erhalten könne.
Normenkette
CoronaVO BW § 3 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 2020-12-12, Abs. 2 Nr. 2 Fassung: 2020-12-12, § 19 Nr. 4 Fassung: 2020-12-12
Verfahrensgang
AG Reutlingen (Entscheidung vom 09.06.2021; Aktenzeichen 9 OWi 24 Js 1403/21) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Reutlingen vom 9. Juni 2021 mit den zugehörigen Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Reutlingen
zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Reutlingen hat gegen den Betroffenen mit Urteil vom 9. Juni 2021 wegen vorsätzlicher Zuwiderhandlung gegen ein Zutritts- und Teilnahmeverbot nach § 7 CoronaVO die Geldbuße von 350,00 € verhängt.
Nach den Feststellungen betrat der Betroffene am 14. Dezember 2020 einen Friseursalon in Reutlingen, ohne eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen. Eine vom Betroffenen vorgelegte ärztliche Bescheinigung, wonach ihm das Tragen einer solchen aus medizinischen Gründen unzumutbar sei, hat das Amtsgericht für unzureichend erachtet. Es handele sich um ein Gefälligkeitsattest.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner auf eine Verfahrensrüge sowie auf die ausgeführte Sachrüge gestützten Rechtsbeschwerde.
Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart hat beantragt, das Urteil durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 349 Abs. 4 StPO aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Reutlingen zurückzuverweisen. Die vom Amtsgericht angewandte Rechtsnorm sei auf den Sachverhalt unanwendbar, da sie sich nur gegen den Betreiber des Friseursalons, nicht aber gegen Kunden richte. In Betracht komme aber ein Verstoß des Betroffenen gegen § 3 Abs. 1 Nr. 2 CoronaVO.
Der Einzelrichter hat die Sache mit Beschluss vom 30. Juni 2022 gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.
II.
1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 344, § 345 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig.
2. Die Rechtsbeschwerde hat in der Sache zumindest vorläufig Erfolg. Das Rechtsmittel ist mit der Sachrüge begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.
a) Zwar ist die Verfahrensrüge unbegründet und ein Verstoß gegen Verfassungsnormen ist nicht ersichtlich. Das bußgeldbewehrte Gebot des Tragens einer Mund-Nasen-Bedeckung ist vielmehr verfassungsgemäß (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. Juni 2021 - 2 Rb 35 Ss 94/21).
b) Die Rechtsanwendung durch das Amtsgericht war jedoch fehlerhaft.
Nach § 19 Nr. 8 CoronaVO in der ab dem 12. Dezember 2020 gültigen Fassung handelte unter anderem ordnungswidrig, wer einem Zutritts- oder Teilnahmeverbot nach § 14 Satz 2 CoronaVO zuwiderhandelte. Der Anwendungsbereich des § 14 CoronaVO war jedoch auf die Betreiber oder Anbieter der dort aufgeführten Einrichtungen und Betriebe beschränkt, Kunden hingegen waren nicht umfasst. Das Amtsgericht hätte die Vorschrift daher nicht auf den Betroffenen anwenden dürfen.
c) Aber auch eine Ordnungswidrigkeit nach § 19 Nr. 4, § 3 Abs. 1 Nr. 2 CoronaVO wird von den getroffenen Feststellungen nicht getragen.
aa) § 3 Abs. 1 Nr. 2 CoronaVO in der zum Zeitpunkt der Tat gültigen Fassung schrieb beim Besuch von Friseurbetrieben das Tragen einer nicht-medizinischen Alltagsmaske oder einer vergleichbaren Mund-Nasen-Bedeckung vor. Hiervon ausgenommen waren unter anderem Personen, die glaubhaft machen konnten, dass ihnen das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aus gesundheitlichen oder sonstigen zwingenden Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar ist, wobei die Glaubhaftmachung gesundheitlicher Gründe in der Regel durch eine ärztliche Bescheinigung zu erfolgen hatte (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 CoronaVO).
Eine solche ärztliche Besch...