Leitsatz
- Übernimmt ein Sozialhilfeträger im Rahmen der Eingliederungshilfe die gesamten Kosten für die vollstationäre Unterbringung eines behinderten volljährigen Kindes, kann er die Abzweigung des Kindergelds in voller Höhe für sich beanspruchen, wenn der Kindergeldberechtigte keinerlei Aufwendungen für den Unterhalt des Kindes oder die Kontaktpflege mit dem Kind trägt. Die Höhe des abzuzweigenden Kindergelds wird durch die in § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG in der ab 2002 geltenden Fassung getroffene Regelung über den Übergang des Unterhaltsanspruchs gegen die Eltern nicht auf nur monatlich 26 EUR beschränkt.
- Das der Familienkasse bei der Entscheidung über die Abzweigung grundsätzlich zustehende Ermessen ist angesichts der besonderen Umstände dieses Sachverhalts auf Null reduziert.
Sachverhalt
Streitig ist, ob der Sozialhilfeträger (Kläger) von der Familienkasse (Beklagter) zu Recht die Abzweigung des Kindergelds für ein 1964 geborenes, zu 100 % schwerbehindertes Kind verlangen kann, weil er für das vollstationär untergebrachte Kind Eingliederungshilfe von monatlich ca. 2600 EUR geleistet hat und die Eltern, die zu dem Kind keinen Kontakt unterhielten, keinen Unterhalt geleistet haben. Die Familienkasse setzte das Kindergeld auf Antrag des beigeladenen Vaters, der lediglich eine Altersrente von 803 EUR monatlich bezog, ab Januar 2002 fest und verfügte, dass das Kindergeld von 154 EUR an den Sozialhilfeträger ausgezahlt wird. Dagegen reduzierte die Familienkasse im Mai 2002 den abzuführenden Betrag auf 26 EUR monatlich und zahlte den Rest von 128 EUR an den Vater aus. Der Vater wird seit Januar 2002 zu einem Kostenbeitrag von 26 EUR herangezogen. Auf die Klage entschied das FG, dass es bei der vollen Abzweigung an den Sozialhilfeträger bleiben müsse. Die hiergegen von der Familienkasse erhobene Revision wies der BFH zurück.
Entscheidung
Nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG kann das nach § 66 Abs. 1 EStG festgesetzte Kindergeld u.a. an die Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt (hier: der Sozialhilfeträger), wenn der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt bzw. nach § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG, wenn – wie hier – der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist. In einem solchen Fall ist es allein ermessensgerecht, das Kindergeld insgesamt dem Sozialhilfeträger zu übertragen. Denn § 74 Abs. 1 EStG bezweckt, das Kindergeld, wenn der Kindergeldberechtigte keinen Unterhalt leistet, nicht ihm, sondern demjenigen zukommen zu lassen, der den Unterhalt tatsächlich gewährt hat. Entgegen der Ansicht der Familienkasse ist aus § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG, der vorschreibt, dass bei Eingliederungshilfe der Unterhaltsanspruch gegen die Eltern in Höhe von 26 EUR monatlich übergeht, nichts anderes herzuleiten. Dies gilt unabhängig davon, ob dabei ein tatsächlicher oder ein fingierter Unterhaltsanspruch zugrunde gelegt wird.
Praxishinweis
Die Ermessensreduzierung auf Null und damit die Überleitung des gesamten Kindergelds auf den Sozialhilfeträger hat der BFH nur für einen Fall entschieden, in dem die Eltern keinen Barunterhalt und mangels Kontakt mit dem Kind auch keinen Betreuungsunterhalt geleistet haben. Haben sie beispielsweise durch Vorhalten eines Zimmers Aufwendungen, weil sich das Kind etwa an Wochenenden dort befindet, kommt eine Aufteilung des Kindergelds in Betracht, wobei der Aufteilungsmaßstab noch ungeklärt ist.
Link zur Entscheidung
BFH-Urteil vom 17.2.2004, VIII R 58/03