Leitsatz
Das Finanzamt kann im Insolvenzverfahren mit Forderungen aufrechnen, die vor Verfahrenseröffnung entstanden sind, ohne dass es deren vorheriger Festsetzung, Feststellung oder Anmeldung zur Insolvenztabelle bedarf.
Sachverhalt
Über das Vermögen einer GmbH war das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Der Insolvenzverwalter reichte beim Finanzamt für die Gemeinschuldnerin eine berichtigte Lohnsteueranmeldung für einen vor der Verfahrenseröffnung liegenden Zeitraum ein, aus der sich ein Guthaben ergab. Das Finanzamt stimmte dieser Anmeldung nach Verfahrenseröffnung zu, meldete aber zugleich eine vor Verfahrenseröffnung entstandene Umsatzsteuerforderung gegen die Gemeinschuldnerin an. Der Insolvenzverwalter widersprach der Anmeldung vorsorglich "bis zur weiteren Klärung". Darauf erklärte das Finanzamt die Aufrechnung der angeblichen Umsatzsteuerverbindlichkeit gegen das Lohnsteuerguthaben der Gemeinschuldnerin.
Entscheidung
Wird über das Vermögen eines Steuerschuldners ein Insolvenzverfahren eröffnet, so werden – vorbehaltlich spezieller steuerrechtlicher Regelungen, die einen früheren Fälligkeitszeitpunkt bestimmen – die in diesem Zeitpunkt entstandenen Steuerforderungen des Finanzamts fällig. Einer vorherigen Festsetzung der Steuerforderung durch Steuerbescheid oder Feststellung durch Verwaltungsakt nach Maßgabe der InsO oder wenigstens einer Anmeldung der Forderung zur Tabelle bedarf es dafür nicht. Denn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis wird nach § 220 Abs. 2 Satz 1 AO grundsätzlich mit seiner Entstehung fällig, sofern er nicht – was der Regelfall ist – einer Festsetzung bedarf und dann erst mit deren Bekanntgabe fällig wird. Nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens bedürfen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis keiner Festsetzung durch Steuerbescheid und können vom Finanzamt auch gar nicht festgesetzt werden. Sie werden also mit Verfahrenseröffnung fällig, weil in diesem Augenblick das Festsetzungserfordernis entfällt.
Praxishinweis
Mit der Besprechungsentscheidung ist zwischen der Festsetzung einer Steuerforderung durch Steuerbescheid und der Feststellung einer Steuerforderung durch Feststellungsbescheid im Insolvenzverfahren zu unterscheiden!
Die Fälligkeit von Steuerforderungen regelt § 226 AO, wobei die nicht leicht lesbare Vorschrift drei Varianten unterscheidet. Die letzte Variante stellt den absoluten Regelfall dar, während die erste spezialgesetzliche Regelung der Fälligkeit – abgesehen von ihrer ohnehin nur deklaratorischen Erwähnung – ziemlich selten praktisch relevant wird.
Die Frage, ob die Umsatzsteuervorauszahlung für die erste Variante ein Beispiel ist, ob also Umsatzsteuervorauszahlungsschulden, die entgegen § 18 Abs. 1 Satz 1 UStG nicht angemeldet worden sind, mit Ablauf der Anmeldefrist am 10. des Folgemonats fällig werden, konnte der BFH in der Besprechungsentscheidung offen lassen. Sie wird im Schrifttum unterschiedlich beantwortet. Der systematische Zusammenhang des § 18 Abs. 1 UStG dürfte mehr für die Ansicht von Birkenfeld sprechen, der Normtext mehr für die erste.
Link zur Entscheidung
BFH-Urteil vom 4.5.2004, VII R 45/03