Leitsatz
Es wird eine Entscheidung des BVerfG darüber eingeholt, ob § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG in der für den Veranlagungszeitraum 1996 maßgeblichen Fassung vom 25.2.1992 (BGBl I 1992, S. 297) mit dem Grundgesetz insoweit unvereinbar ist, als der Antrag auf Veranlagung bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahrs zu stellen ist.
Sachverhalt
Ein bei einer Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft angestellter Diplom-Volkswirt gab seine Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1996 am 30.12.2002 ab. Das Finanzamt lehnte eine Veranlagung im Januar 2003 ab, da die Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG nicht eingehalten worden sei. Mit dem hiergegen erhobenen Einspruch trug der Arbeitnehmer vor, ihm sei erstmals am 16.1.2003 in einem Telefongespräch mit dem Finanzamt erläutert worden, was eine Antragsveranlagung sei und welche Wirkung sie habe. Zuvor sei er an die Abgabe der Steuerklärung immer erinnert bzw. durch Androhung von Zwangsgeld zur Abgabe aufgefordert worden. Seine nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage wies das FG ab.
Entscheidung
Nach Prüfung der Revision hält der BFH diese einfachrechtlich für unbegründet, ist jedoch der Auffassung, dass die Klage Erfolg haben müsste, wenn § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG verfassungswidrig wäre, wovon der BFH überzeugt ist. Deswegen legte er die Sache dem BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Entscheidung vor.
Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich, weil bei Verfassungskonformität der Ausschlussfrist in § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG die Revision zurückzuweisen wäre. Denn Gründe für eine Amtsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 EStG liegen nicht vor und die zweijährige Frist zur Antragsveranlagung ist versäumt. Wiedereinsetzung, die bei Versäumung der Ausschlussfrist grundsätzlich in Betracht käme, kann ein Jahr nach dem Ende der versäumten Frist nach § 110 Abs. 3 AO nur noch beantragt werden, wenn ein früheres Reagieren infolge höherer Gewalt nicht möglich war. Bloße mangelnde Kenntnis einer Frist führt aber nicht zur Annahme höherer Gewalt.
Der Senat ist davon überzeugt, dass die Ausschlussfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs.1 GG verstößt, weil sie Arbeitnehmer gegenüber anderen Steuerpflichtigen ohne sachlich gerechtfertigten Grund benachteiligt. Denn diese können bis zum Eintritt der Verjährung und damit noch nach bis zu sieben Jahren zuviel abgeführte Steuern vom Finanzamt zurückfordern, während Arbeitnehmer dazu die Veranlagung durch Abgabe einer Steuererklärung vor Ablauf des zweiten auf den Veranlagungszeitraum folgenden Jahrs beantragen müssen. Rechtfertigungsgründe ergeben sich weder aus dem Lohnsteuerabzug als solchem, noch aus Gründen einer funktionsfähigen Verwaltung. Fiskalische Interessen sind kein hinreichender Grund, dass Arbeitnehmer die materiell richtige Steuer nur zwei Jahre, andere Steuerpflichtige aber sieben Jahre durchsetzen können.
Praxishinweis
Ungeachtet der verfassungsrechtlichen Beurteilung könnte auch die Verwaltung an einer gesetzlichen Angleichung interessiert sein. Hierzu müsste der Eingangssatz in § 46 Abs. 2 EStG nach "… durchgeführt" nur um den Zusatz ergänzt werden "wenn sie zu einer Nachforderung führt oder vom Steuerpflichtigen beantragt wird". Danach könnte der umfangreiche Rest des § 46 EStG entfallen. Dadurch würden die bisherigen Fälle der Amtsveranlagung erfasst und die Verwaltung müsste im Übrigen nur auf Antrag tätig werden. Vermutlich ist die Zahl derjenigen, die sich erst nach zwei Jahren melden, nicht sonderlich groß. Andererseits blieben der Verwaltung zahlreiche Streitigkeiten darüber erspart, ob nicht tatsächlich ein Fall der Amtsveranlagung vorliegt oder Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Im Übrigen würde der allseits geforderten Steuervereinfachung entsprochen, weil umfangreiche Regelungen mit schwierigen Abgrenzungsproblemen entfielen.
Link zur Entscheidung
BFH-Beschluss vom 22.5.2006, VI R 46/05