Leitsatz
Geht in einem Schätzungsfall nach Erlass des Steuerbescheides beim Finanzamt innerhalb der Einspruchsfrist die Steuererklärung ohne weitere Erklärung ein, so ist dies im Zweifel als Einlegung eines Einspruchs gegen den Schätzungsbescheid – und nicht als (bloßer) Antrag auf schlichte Änderung des Schätzungsbescheides – zu werten.
Sachverhalt
Nachdem eine GmbH keine Umsatzsteuererklärung für 1998 abgegeben hatte, erließ das Finanzamt am 18.4.2000 einen Schätzungsbescheid. Am 3.5.2000 reichte die GmbH ohne weitere Erläuterung die Umsatzsteuererklärung 1998 ein, die das Finanzamt als Antrag auf schlichte Änderung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a AO beurteilte. Zudem setzte es zur Ergänzung – erfolglos – eine Frist bis zum 2.6.2000. Unter dem 4.7.2000 erließ das Finanzamt einen Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für 1998 mit der Erläuterung: "Hiermit erledigt sich Ihr Änderungsantrag vom 3. Mai 2000 …". Hiergegen legte die GmbH am 8.8.2000 Einspruch ein und fügte eine berichtigte Umsatzsteuererklärung bei. Diesen Einspruch verwarf das Finanzamt mit Entscheidung vom 18.10.2000 als unzulässig, da verspätet. Die Klage war erfolglos.
Entscheidung
Der BFH gab der Revision nach dem im Leitsatz wiedergegebenen Grundsatz statt. Da ein Steuerpflichtiger die Änderung eines ihn beschwerenden Steuerbescheides wahlweise mit dem Einspruch oder dem sog. "schlichten Antrag" auf Änderung angehen kann, kommt es auf deren unterschiedliche Wirkungen an. Der Einspruch nach § 347 AO unterscheidet sich von einem schlichten Antrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a AO in folgenden Punkten:
- Er hindert den Eintritt der formellen und materiellen Bestandskraft.
- Er kann zur Verböserung führen; der Verböserungsgefahr kann der Steuerpflichtige aber durch rechtzeitige Rücknahme des Einspruchs entgehen.
- Er ermöglicht die Aussetzung der Vollziehung.
Ob ein Einspruch oder ein schlichter Änderungsantrag gewollt ist, muss gegebenenfalls durch Auslegung geklärt werden. In Zweifelsfällen ist ein Einspruch anzunehmen, da er die Rechte des Steuerpflichtigen umfassender wahrt als ein Antrag nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a AO. Das entspricht auch dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gewährleistung des effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG.
Nach den Umständen des Falles war die nach dem Erlass des Schätzungsbescheids vom 18.4.2000 innerhalb der Einspruchsfrist am 3.5.2000 eingereichte Umsatzsteuererklärung 1998 als Einspruch anzusehen. Damit wurde der Änderungsbescheid des Finanzamts vom 4.7.2000 gemäß § 365 Abs. 3 Satz 1 AO Gegenstand des Einspruchsverfahrens. Das Finanzamt hätte über den Einspruch vom 3.5.2000 entscheiden müssen. Dies muss nachgeholt werden.
Praxishinweis
Steuerverfahrensrecht gehört nicht zu den Lieblingsgebieten der steuerberatenden Berufe. Das ist verständlich. Gleichwohl gehört die Kenntnis von Erklärungs- und Einspruchsfristen zum Grundkurswissen. Letztlich sollte man sich – und auch den Finanzämtern – die "Spielereien" mit der Nichtabgabe von Steuererklärungen, Mahnungen, Schätzungsbescheiden und dann doch abgegebenen Erklärungen sparen, weil das Risiko des verspäteten Vorgehens gegen Schätzungsbescheide und Verspätungszuschläge hoch ist. Im Streitfall ging es gut. Aber die wenigsten Fälle dieser Art erreichen über eine Nichtzulassungsbeschwerde den BFH. Das liegt häufig(st) wieder an der bereits angesprochenen Distanz zum Verfahrensrecht.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 27.02.2003, V R 87/01