Die mit großer Eile 2014 und 2015 in das Gesetz eingefügten Sonderbestimmungen zum Bau von Flüchtlingsunterkünften sind Gegenstand zweier obergerichtlicher Urteile, die das Hamburgische Oberverwaltungsgericht und der Hessische Verwaltungsgerichtshof in diesem Frühjahr erlassen haben.
Die Hamburger Entscheidung
In dem Hamburger Fall wandten sich die Eigentümer eines Grundstücks im Bereich eines Bebauungsplans, der ein reines Wohngebiet auswies, gegen die Genehmigung von Containerunterkünften zur Erstaufnahme von bis zu 252 Flüchtlingen und Asylbegehrenden. Sie beriefen sich dabei auf den Gebietserhaltungsanspruch, der vorsieht, dass in einem reinen Wohngebiet nur eine gebietskonforme Nutzung zugelassen werden darf. § 3 BauNVO sieht allerdings eine Ausnahmegenehmigung bei Anlagen für soziale Zwecke vor. Die Erteilung einer solchen Ausnahmegenehmigung ist nach den Sondervorschriften für Flüchtlingsbauten (§ 246 Abs. 11 BauGB) als Regelfall vorgesehen. Diese Vorschriften decken nach Auffassung des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts die Genehmigung für die Flüchtlingsunterkünfte. Das Gericht wies auch den Einwand zurück, dass die Genehmigung einer so großen Flüchtlingsunterkunft die Grundzüge der Planung, wie sie in dem Bebauungsplan für das reine Wohngebiet niedergelegt worden waren, verletze und daher unzulässig sei. Es wies darauf hin, dass in § 246 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 BauGB, der sich speziell mit mobilen Unterkünften befasst, nicht mehr auf die Grundzüge der Planung abgestellt wird.
Die Hessische Entscheidung
Der Hessische Verwaltungsgerichtshof befasste sich in seinem Beschluss vom 3.3.2016 mit der Beschwerde des Eigentümers einer Doppelhaushälfte. In der angrenzenden Doppelhaushälfte sollte durch Umbaumaßnahmen Raum für die Unterbringung von bis zu 17 Flüchtlingen geschaffen werden. Auch hier beriefen sich die Beschwerdeführer auf den Gebietserhaltungsanspruch für ihr Wohngebiet, das als faktisches reines Wohngebiet oder als faktisches allgemeines Wohngebiet einzustufen war. Sie rügten, dass sich die geplante Nutzung nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge, da es sich bei der geplanten Flüchtlingsunterbringung aufgrund der beengten Verhältnisse nicht mehr um eine normale Wohnnutzung handle. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat den Fall zum Anlass genommen, die Unterschiede zwischen einer Wohnnutzung und einer "Anlage für soziale Zwecke" herauszuarbeiten. Anlagen für soziale Zwecke dienen der sozialen Fürsorge und der öffentlichen Wohlfahrt. Sie gewährleisten regelmäßig eine Betreuung der Bewohner oder andere fürsorgliche Maßnahmen. Eine Anlage für soziale Zwecke wird im Gegensatz zur Wohnung gerade durch die Beschränkung der Eigenverantwortlichkeit der Lebensführung charakterisiert.
Abgrenzung: Wohnen und Anlage für soziale Zwecke
Anhand dieser Gesichtspunkte ist die Abgrenzung zwischen der Nutzung eines Gebäudes zum Wohnen und der Nutzung zu anderen Formen der Unterbringung von Personen vorzunehmen. Der Verwaltungsgerichtshof kommt dann zu dem Schluss, dass die Unterbringung der insgesamt 15 Flüchtlinge in der Doppelhaushälfte mit hoher Wahrscheinlichkeit als Wohnnutzung zu qualifizieren ist. Die Grundrisse der beiden in sich abgeschlossenen Wohneinheiten in der Doppelhaushälfte lassen erkennen, dass sowohl die im Erdgeschoss vorhandene Dreizimmerwohnung, als auch die weitere Dreizimmerwohnung im Obergeschoss aufgrund der vorhandenen Küchen und Badezimmer die Möglichkeit einer eigen gestalteten Haushaltsführung der Bewohner ermöglicht. Hinzu kommt, dass eine externe Versorgung für Flüchtlinge nicht vorgesehen ist, die Flüchtlinge also selbst für ihre Haushaltsführung verantwortlich sind. Der Verwaltungsgerichtshof misst auch der Tatsache, dass die Flüchtlinge voraussichtlich nur für die Dauer des Anerkennungsverfahrens in den beiden Wohnungen verbleiben werden, keine Bedeutung für die Unterscheidung zwischen Wohnen und Anlage für soziale Zwecke zu. Nach seiner Auffassung unterfällt dem Begriff des Wohnens auch die Lebensführung in einer Wohnung, in der sich eine Person für einen nicht unerheblichen Zeitraum aufhalten wird, auch wenn die Dauer des Verbleibs von vorneherein begrenzt ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat schließlich auch das Gebot der nachbarlichen Rücksichtnahme aus § 15 BauNVO untersucht und in diesem Gebot ebenfalls keinen Grund für die Nichtzulassung der Umbaumaßnahmen gesehen.
Fazit
Die beiden obergerichtlichen Entscheidungen zeigen, dass die Rechtsprechung der Schaffung von Flüchtlingsunterkünften eine hohe Priorität beimisst. Eine nüchterne Beurteilung zeigt allerdings, dass besonders im Fall der mit bis zu 17 Flüchtlingen deutlich überbelegten Doppelhaushälfte die Fragen des Gebietserhaltungsanspruchs und der nachbarlichen Zumutbarkeit nicht zufriedenstellend abgehandelt wurden.
(Hamburgisches OVG, Beschluss v. 14.4.2016, 2 Bs 29/16, ZfBR 2016 S. 479; Hessischer VGH, Beschluss v. 3.3.2016, 4 B 403/16, Baurecht 2016 S. 1117)