Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Insolvenzverfahren. Internationale Zuständigkeit. Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen einer natürlichen Person, die eine selbständige Tätigkeit ausübt. Begriff ‚Hauptniederlassung‘. Begriff ‚Niederlassung‘. Vorsitzender des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft
Normenkette
VO (EU) 2015/848 Art. 3
Beteiligte
Finanzamt Wilmersdorf (Actifs d’indépendant) |
Tenor
1.Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren
ist dahin auszulegen, dass
der Begriff „Hauptniederlassung“ einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung ausübt, nicht dem in Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung definierten Begriff „Niederlassung“ entspricht.
2.Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung 2015/848
ist dahin auszulegen, dass
bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person am Ort der Hauptniederlassung dieser Person befindet, auch wenn für diese Tätigkeit kein Personal oder keine Vermögenswerte erforderlich sind.
Tatbestand
In der Rechtssache C-501/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. Juni 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 7. August 2023, in dem Verfahren
DL
gegen
Land Berlin
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra, der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben einer Richterin der Achten Kammer und des Richters N. Jääskinen,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von DL, vertreten durch Rechtsanwalt T. Winter,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Vollrath und W. Wils als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 10 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen DL und dem Land Berlin (Deutschland) über ein vom Land Berlin im Hinblick auf DL eingeleitetes Insolvenzverfahren.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 23, 24, 28, 37 und 38 der Verordnung 2015/848 lauten:
„(23) Diese Verordnung gestattet die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Dieses Verfahren hat universale Geltung sowie das Ziel, das gesamte Vermögen des Schuldners zu erfassen. Zum Schutz der unterschiedlichen Interessen gestattet diese Verordnung die Eröffnung von Sekundärinsolvenzverfahren parallel zum Hauptinsolvenzverfahren. Ein Sekundärinsolvenzverfahren kann in dem Mitgliedstaat eröffnet werden, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat. Seine Wirkungen sind auf das in dem betreffenden Mitgliedstaat belegene Vermögen des Schuldners beschränkt. Zwingende Vorschriften für die Koordinierung mit dem Hauptinsolvenzverfahren tragen dem Gebot der Einheitlichkeit in der [Europäischen] Union Rechnung.
(24) Wird über das Vermögen einer juristischen Person oder einer Gesellschaft ein Hauptinsolvenzverfahren in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihren Sitz hat, eröffnet, so sollte die Möglichkeit bestehen, im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ein Sekundärinsolvenzverfahren in dem Mitgliedstaat zu eröffnen, in dem sie ihren Sitz hat, sofern der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität nachgeht, die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten in diesem Mitgliedstaat voraussetzt.
…
(28) Bei der Beantwortung der Frage, ob der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners für Dritte feststellbar ist, sollte besonders berücksichtigt werden, welchen Ort die Gläubiger als denjenigen wahrnehmen, an dem der Schuldner der Verwaltung seiner Interessen nachgeht. Hierfür kann es erforderlich sein, die Gläubiger im Fall einer Verlegung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen zeitnah über den neuen Ort zu unterrichten, an dem der Schuldner seine Tätigkeiten ausübt, z. B. durch Hervorhebung der Adressänderung in der Geschäftskorrespondenz, oder indem der neue Ort in einer anderen geeigneten Weise veröffentlicht wird.
…
(37) Das Recht, vor der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat...