Leitsatz
Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: Erlauben es Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g und/oder Abs. 2 Buchst. a der 6. EG-RL dem nationalen Gesetzgeber, die Steuerbefreiung der Leistungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen davon abhängig zu machen, dass bei diesen Einrichtungen "im vorangegangenen Kalenderjahr die Pflegekosten in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind" (§ 4 Nr. 16 Buchst. e UStG)?
Ist es unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer für die Antwort auf diese Frage von Bedeutung, dass der nationale Gesetzgeber dieselben Leistungen unter anderen Voraussetzungen als steuerfrei behandelt, wenn sie von amtlich anerkannten Verbänden der freien Wohlfahrtspflege und der freien Wohlfahrtspflege dienenden Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die einem Wohlfahrtsverband als Mitglied angeschlossen sind, ausgeführt werden (§ 4 Nr. 18 UStG)?
Sachverhalt
K meldete zum 1.6.1993 einen ambulanten Pflegedienst an und wurde zum 1.10.1993 von der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassen. Sie behandelte ihre Umsätze als gem. § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG steuerfrei. Das Finanzamt versagte die Steuerfreiheit für 1993, weil weniger als zwei Drittel der Pflegekosten von Sozialversicherungsträgern getragen wurden. Die Steuerfreiheit für 1994 versagte es, weil § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG auf die Verhältnisse des Vorjahrs abstelle. Das FG gab der Klage überwiegend statt.
Entscheidung
Der BFH hat Zweifel, ob § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG mit dem Grundsatz der umsatzsteuerlichen Neutralität zu vereinbaren ist. Er hat angesichts des eindeutigen Wortlauts und Willens des Gesetzgebers eine richtlinienkonforme Auslegung der Vorschrift jedoch nicht mehr für zulässig gehalten und deshalb den EuGH angerufen.
Hinweis
Nach der 1993 geltenden Fassung des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG sind ambulante Pflegeleistungen steuerfrei, wenn "bei … Einrichtungen zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen im vorangegangenen Kalenderjahr die Pflegekosten in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind". Die Vorschrift beruht auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-RL. Die Mitgliedstaaten können die Steuerbefreiung anderer als öffentlich-rechtliche Einrichtungen von weiteren Bedingungen abhängig machen.
Laut EuGH kann sich ein Steuerpflichtiger auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. ER-RL berufen, wenn eine nationale Regelung damit unvereinbar ist. Allerdings muss das nationale Gericht klären, ob eine Einrichtung mit sozialem Charakter im Sinn dieser Bestimmung unterhalten wird. Dies ist laut BFH der Fall, wenn die Einrichtung Leistungen erbringt, deren Kosten von den Sozialversicherungsträgern übernehmbar sind.
Angesichts des Neutralitätsgrundsatzes ist die Zwei-Drittel-Grenze u.a. bedenklich, weil ambulante Pflegeleistungen von in § 23 UStDV aufgezählten Verbänden und privaten Einrichtungen, die Mitglieder dieser Verbände sind, auch dann steuerbefreit sein können, wenn sie die Grenze im Vorjahr nicht erreicht haben. Damit hängt die Steuerbefreiung u.U. von der Mitgliedschaft in einem dieser Verbände ab. Da die Umsatzbesteuerung gleicher Leistungen nicht von der Rechtsform des Leistenden abhängen darf, ist es erst recht zweifelhaft, ob eine Mitgliedschaft in einem Verband ein zulässiges Unterscheidungskriterium für die Steuerbefreiung ist.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 02.03.2011, XI R 47/07.