Rz. 18
Trotz des strengen, objektivierten Verschuldensmaßstabs erweisen sich Leitungsentscheidungen des Vorstandes nur in begrenztem Umfange einer gerichtlichen Nachprüfung zugänglich. Dies liegt vor allem in dem – evidenten – Umstand begründet, dass dem Vorstand bei unternehmerischen Entscheidungen ein weiter Ermessensspielraum zukommt. Unternehmerische Entscheidungen sind regelmäßig zukunftsbezogen und folglich prognostischer Natur und erfolgen daher notwendig unter dem Vorzeichen von ›Unsicherheit‹ und sind somit – soweit es um die Verwirklichung von Marktchancen geht – notwendig mit der Übernahme von Risiken verbunden. Die im Rahmen der Genossenschaftsnovelle 1973 verstärkte Leitungskompetenz des Vorstandes (vgl. § 27 Abs. 1 S. 1) würde in ihr Gegenteil verkehrt, würde man durch eine ›Erfolgshaftung‹ der Organwalter deren Bereitschaft zur Übernahme von – vertretbaren – Risiken gänzlich ausschließen. Es geht folglich nicht an, die Bewertung einer Entscheidung des Vorstandes bzw. eines bestimmten Organwalters seitens des Gerichts ›im Nachhinein‹ an die Stelle der ›ex ante‹ getroffenen Erwägungen des Vorstandes zu setzen. Maßgeblich für die Beurteilung, ob ein Vorstandsmitglied den gegenüber der Genossenschaft geschuldeten Sorgfaltsmaßstab gewahrt hat, ist folglich der Zeitpunkt der Vornahme des Entscheidungsaktes. Dies bedeutet nicht eine ›Entbindung‹ von Sorgfaltspflichten. Vielmehr muss sich deren Ausgestaltung im Kern auf die ordnungsmäßige Vorbereitung, Durchführung und Erfolgskontrolle des Entscheidungsprozesses und nur in engeren Grenzen auf die zugrunde gelegten Annahmen und Wertungen beziehen. Diese liegen vielmehr im pflichtgemäßen ›Ermessen‹ des Vorstandes. Insofern kommt ihm ein eigenständiger und der gerichtlichen Kontrolle weitgehend entzogener ›Prognosespielraum‹ zu. Dies wurde zunächst seitens des BGH in seiner ›ARAG/Garmenbeck-Entscheidung‹ ausdrücklich anerkannt (BGH NJW 1997, S. 1926 ff., 1927 f.; siehe hierzu Henze, NJW 1998, S. 3309 ff., 3310 f.; Keßler, FS Baumann, 1999, S. 153 ff.).
Rz. 19
Mit dem ›Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts‹ (UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 12) vom 22.09.2005 hat in der Folge auch der Gesetzgeber den spezifischen Besonderheiten unternehmerischer Entscheidungsfindung durch die Einfügung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Ausprägung der ›Business Judgement Rule‹ im Kontext der aktienrechtlichen Organhaftung Rechnung getragen. Danach liegt eine Pflichtverletzung ›nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln‹. Obwohl sich die Bestimmung lediglich im Aktiengesetz findet, betont bereits die Regierungsbegründung (BT-Drucks. 15/5092 S. 12), dass sich ›der Grundgedanke des Geschäftsleiteremessens im Bereich unternehmerischer Entscheidungen nicht auf den Haftungsbestand des § 93 AktG und nicht auf die Aktiengesellschaft beschränkt‹, sondern sich ›auch ohne positivrechtliche Regelung in allen Formen unternehmerische Betätigung (wieder-) findet.‹ Insofern könne das ›für das Aktiengesetz gefundene Regelungsmuster und die Literatur und Rechtsprechung dazu (…) als Anknüpfungs- und Ausgangspunkt für die weitere Rechtsentwicklung dienen‹.
Rz. 20
So hat denn auch der BGH unter ausdrücklicher Bezugnahme auf seine ARAG/Garmenbeck-Entscheidung mittlerweile bekräftigt, in genossenschaftlichen Unternehmen sei ›dem Vorstand im Grundsatz bei der Leitung der Geschäfte ein weiter Handlungsspielraum zuzubilligen‹. Dies schließe auch ›das bewusste Eingehen geschäftlicher Risiken mit der Gefahr von Fehlurteilen und Fehleinschätzungen ein‹ (BGH ZIP 2002, S. 213 ff., 214). Damit rekurriert das Gericht im Ergebnis auf die Regierungsbegründung zum UMAG und bezieht die Genossenschaft in Übereinstimmung mit der ratio legislatoris damit – uneingeschränkt – in den Regelungsbereich des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG, d. h. der ›Business Judgement Rule‹, ein (siehe auch: BGH ZIP 2004, S. 407 ff., 408; BGH ZIP 2005, S. 981 ff., 982; sowie zuletzt zugunsten der GmbH: BGH ZIP 2008, S. 1675 ff., 1676 f.; zustimmend auch: Pöhlmann/Fandrich/Bloehs § 34 RN 7).
Rz. 21
Die hier bereits frühzeitig zutage tretende weite rechtspolitische Ausrichtung des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG dürfte zudem den entscheidenden Grund dafür darstellen, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Genossenschaftsnovelle zunächst davon Abstand genommen hatte, eine gleichlautende Regelung in § 34 Abs. 1 GenG einzufügen, auch wenn eine solche Verfahrensweise dem rechtsstaatlichen Gebot weitestgehender Normentransparenz diametral widersprach. Allerdings stand es genossenschaftlich verfassten Unternehmen frei, eine entsprechende Regelung in ihre Satzung aufzunehmen. Soweit vereinzelte Registergerichte (vgl. LG Siegen, Beschluss vom 27.01.2009, Az. 7 T8/08) hierin im Lichte des Grundsatzes ›formeller Satzungsstrenge‹ (§ 18 S. 2) einen Verstoß gegen die zwingende Regelung des § 34...