Leitsatz

  1. Von einer unrichtigen Sachbehandlung nach § 346 Abs. 1 AO ist dann auszugehen, wenn sich die Vollstreckungsmaßnahme unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls im Zeitpunkt ihrer Vornahme durch die Finanzbehörde dadurch als offensichtlich fehlerhaft erweist, dass die rechtlichen Voraussetzungen für ihre Durchführung nicht vorliegen oder dass die Grenzen des der Finanzbehörde zustehenden Ermessens deutlich überschritten worden sind.
  2. Nach Ablehnung des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung ist die Finanzbehörde grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, dem Vollstreckungsschuldner vor Einleitung von Vollstreckungsmaßnahmen eine bis zu sechs Wochen zu bemessende Frist einzuräumen, um ihm damit Gelegenheit zu geben, beim FG einen Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO stellen zu können; denn die Rechtsprechung des BFH, nach der sich die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung in den Fällen der Zurückverweisung der Hauptsache zur weiteren Sachaufklärung auf den Zeitraum bis zu sechs Wochen nach der Zustellung des Revisionsurteils erstrecken kann, ist auf den Fall der Ablehnung eines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung durch die Finanzbehörde nicht übertragbar.
 

Sachverhalt

Das Finanzamt hatte gegen eine GmbH Steuerbescheide mit erheblichen Nachforderungen erlassen. Da sich diese nicht beitreiben ließen, nahm es den Gesellschafter-Geschäftsführer in Haftung. Dieser beantragte Aussetzung der Vollziehung. Das Finanzamt teilte ihm mit, dass über seinen Antrag erst nach einer Entscheidung des FG über den von der GmbH gestellten Aussetzungsantrag entschieden werde. Im April 2000 lehnte das FG den Aussetzungsantrag der GmbH, im August das Finanzamt den des Geschäftsführers ab. Noch vor Ablauf der Einspruchsfrist erließ das Finanzamt Pfändungs- und Einziehungsverfügungen zur Durchsetzung des Haftungsbescheids. Später wurde der Haftungsbescheid vom FG aufgehoben. Es besteht jetzt noch Streit über die Vollstreckungskosten, die das Finanzamt gegen den Geschäftsführer festgesetzt hat.

 

Entscheidung

Der Kostenbescheid ist rechtswidrig. Die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen beruhen auf einem Ermessensfehlgebrauch des Finanzamts. Von einer Erhebung der Vollstreckungskosten ist daher gemäß § 346 Abs. 1 AO aufgrund unrichtiger Sachbehandlung abzusehen. Es besteht zwar nach Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung keine zeitlich bestimmte Wartepflicht des Finanzamts; die angeführte Rechtsprechung[1] ist insoweit nicht einschlägig. Das Finanzamt hat jedoch nach Ansicht des BFH durch die nach Ablehnung des Aussetzungsantrags in nicht gebotener Eile durchgeführten Vollstreckungsmaßnahmen das ihm zustehende Entschließungsermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt und damit einen offensichtlichen Fehler begangen, der die Annahme einer unrichtigen Sachbehandlung i.S. von § 346 AO rechtfertigt. Vollstreckungskosten dürfen deshalb gemäß § 346 Abs. 1 AO nicht erhoben werden.

 

Praxishinweis

Es handelt sich um eine auf einer umfassenden Berücksichtigung der (außergewöhnlichen) Umstände des Einzelfalls beruhende Entscheidung, deren Annahme einer unrichtigen Sachbehandlung nicht verallgemeinert werden kann. Entscheidend ist vielmehr die Aussage, dass nach Ablehnung eines Aussetzungsantrags keine zeitlich bestimmte Wartepflicht besteht. Allerdings gemahnt die Entscheidung, die Vollstreckung jedenfalls bei "heiklen" Aussetzungsentscheidungen und nicht akut gefährdeter Beitreibbarkeit der öffentlich-rechtlichen Forderung nicht vorschnell einzuleiten, sondern dem Schuldner Zeit für die Prüfung zu lassen.

 

Link zur Entscheidung

BFH-Urteil vom 27.10.2004, VII R 65/03

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