Leitsatz

Bei einem noch nicht 27 Jahre alten Kind, das auf Grund seiner Behinderung keiner Erwerbstätigkeit nachgehen kann und dessen laufende Einkünfte und Bezüge seinen Grundbedarf und seinen behinderungsbedingten Mehrbedarf nicht decken, ist Kindergeld auch zu gewähren, wenn das Kind Vermögen besitzt.

 

Sachverhalt

Die Familienkasse versagte ab Juli 1998 das dem Vater einer 1980 geborenen Tochter T gewährte Kindergeld, nachdem bekannt geworden war, dass die T über ein Sparguthaben von rd. 130 000 DM verfügt. T ist auf Grund eines ärztlichen Kunstfehlers seit ihrer Geburt schwerstbehindert (Grad der Behinderung 100 % mit den Merkzeichen aG, Bl und H) und wird im Haushalt des Vaters von zwei Vollzeit-Pflegekräften betreut. Das Sparguthaben resultiert aus Schadensersatzzahlungen des Krankenhauses in Höhe von 225 000 DM einschließlich 100 000 DM Schmerzensgeld. Die gegen die Aufhebung des Kindergeldes erhobene Klage hatte Erfolg.Der BFH wies die Revision der Familienkasse zurück.

 

Entscheidung

Für ein behindertes Kind steht – ohne Altersgrenze – Kindergeld zu, wenn das Kind bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres wegen der Behinderung außerstande war, sich selbst zu unterhalten, solange dieser Umstand anhält. Das Außerstandesein zum Selbstunterhalt liegt vor, wenn das Kind seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und der Lebensunterhalt auch nicht durch entsprechende Einkünfte und Bezüge des Kindes gedeckt ist. Dabei zählt zum notwendigen Lebensbedarf der existentielle Grundbedarf und der behinderungsbedingte Mehrbedarf. Der existentielle Grundbedarf deckt sichmit dem auch bei nicht behinderten Kindern anzusetzenden Existenzminimum, das mit dem jeweiligen Jahresgrenzbetrag (im Streitjahr 1998: 12 360 DM) übereinstimmt. Der behinderungsbedingte Mehrbedarf ist in Höhe desmaßgebenden Behinderten-Pauschbetrags[1] anzunehmen, sofern nicht nachgewiesen wird, dass im Einzelfall höhere außergewöhnliche Belastungen, beispielsweise für Wäsche, Hilfsleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen usw. behinderungsbedingt entstanden sind. Im Streitfall haben die Mittel der T – Pflegegeld, Landesblindengeld und Zinseinnahmen – bei weitem nicht ausgereicht, den Grundbedarf (12 360 DM) und den behinderungsbedingten Mehrbedarf, u. a. durch den Einsatz von zwei Vollzeit-Pflegekräften zu decken.

Entgegen der Auffassung der Familienkasse ist das Vermögen der T nicht zu berücksichtigen. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut, weil im einschlägigen § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG – anders als in § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG – ein diesbezüglicher Vorbehalt nicht aufgenommen ist. Die Rechtsprechung zum insofern wortgleichen § 1602 Abs. 1 BGB, nach dem ein volljähriger Unterhaltsberechtigter eigenes Vermögen einsetzen muss, ist nicht übertragbar, zumal die steuerliche Berücksichtigung von Kindern – anders als die Unterhaltsberechtigung – grundsätzlich zeitlich bis zum 27. Lebensjahr begrenzt ist. Bei nicht behinderten Kindern braucht das Vermögen kindergeldrechtlich nicht eingesetzt zu werden. Es ist sachgerecht, dies auf Behinderte zu übertragen, bei denen das Gesetz zwar keinen festen Grenzbetrag vorsieht, deren Existenzminimum aber mit dem selben Betrag angesetzt wird, wie dies bei nicht behinderten Kindern der Fall ist. Dem steht nicht entgegen, dass behinderte Kinder über das 27. Lebensjahr hinaus berücksichtigt werden können, da lediglich dem Umstand Rechnung getragen wird, dass infolge der Behinderung regelmäßig eine dauernde Bedürftigkeit des Kindes und damit eine dauerhafte Belastung der Eltern gegeben ist.

 

Praxishinweis

Sofern in der Vergangenheit das Kindergeld wegen Vermögens des Kindes versagt worden ist, kann das Kindergeld für noch nicht bestandskräftig abgelehnte Jahre bis zur Verjährungsgrenze nachgefordert werden[2].

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 19.08.2002, VIII R 17/02

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