Leitsatz

Voraussetzung für die Berücksichtigung eines über 27 (bei Behinderungseintritt nach dem 31.12.2006: 25) Jahre alten behinderten Kindes ist nicht, dass neben der Behinderung auch die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt bereits vor Vollendung des 27. (bzw. 25.) Lebensjahres vorgelegen hat.

 

Sachverhalt

S, 1962 geboren, ist behindert (GdB ab 1989: 60), ohne Berufsausbildung und nur eingeschränkt arbeitsfähig. Er war mehrmals kurzzeitig als Aushilfe tätig, dazwischen arbeitsunfähig erkrankt, arbeitslos bzw. in Förderungsmaßnahmen eingebunden.

Ab Oktober 2002 arbeitete S zeitweise in Werkstätten für psychisch Behinderte. Seit März 2003 erhält er eine Erwerbsminderungsrente. Der Antrag auf Kindergeld für S wurde abgelehnt, weil nur die Behinderung, nicht aber die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt, vor Vollendung des 27. Lebensjahrs vorgelegen habe.

 

Entscheidung

Der BFH hat die Sache zurückverwiesen.

Im zweiten Rechtsgang ist zu klären, ob S wegen seiner bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahrs eingetretenen Behinderung außerstande gewesen ist, sich selbst zu unterhalten.

 

Kommentar

Praxishinweis

Ist ein volljähriges Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten, kann Kindergeld ohne Rücksicht auf sein Alter beansprucht werden. Die Behinderung muss allerdings vor Vollendung des 27. Lebensjahrs eingetreten sein.

Ob dies nur für die Behinderung gilt oder ob auch für die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt vor Vollendung des

27. Lebensjahrs vorgelegen haben muss, war streitig.

Der BFH folgt der h.M., wonach nur die Behinderung vor Erreichen der Altersgrenze vorgelegen haben muss, die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt aber später eingetreten sein kann.

Eine behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt liegt vor, wenn die vom Kind trotz der Behinderung erzielbaren Einkünfte und Bezüge nicht dessen gesamten Lebensbedarf decken können.

Das Urteil begünstigt Eltern, deren Kinder trotz Behinderung bis zum Erreichen der Altersgrenze imstande waren, sich selbst zu unterhalten, und bei denen diese Fähigkeit erst später entfallen ist. Mit einer gegenteiligen Entscheidung hätte der BFH einen Anreiz gesetzt, die Erwerbstätigkeit bereits vor Eintritt der Altersgrenze aufzugeben.

Offen bleibt, ob die vor Erreichen der Altersgrenze eingetretene Behinderung mit derjenigen identisch sein muss, die den späteren Verlust der Fähigkeit zum Selbstunterhalt auslöst.

Dafür dürfte der Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG sprechen: "Voraussetzung ist, dass die Behinderung …".

Klärungsbedürftig ist weiterhin, welcher Grad die Behinderung vor Erreichen des Altersgrenze vorliegen muss: Genügt eine geringe, aber dauerhafte Beeinträchtigung? Ist ein Mindestgrad der Behinderung erforderlich?

 

Link zur Entscheidung

BFH, 9.6.2011, III R 61/08.

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