Leitsatz (amtlich)

Bei der Entscheidung, ob ein volljähriges behindertes Kind, das bei seiner Familie lebt, i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 1996 außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist, sofern kein Einzelnachweis erfolgt, jedenfalls ein behindertenbedingter Mehrbedarf in Höhe der Pauschbeträge des § 33b Abs. 3 EStG zu berücksichtigen. Dieser pauschale Mehrbedarf wird nicht mit einem erhaltenen Pflegegeld berechnet (gegen R 180d Abs. 4 Satz 2 EStR 1996 bis 1998).

 

Sachverhalt

Der 1972 geborene Sohn des Klägers ist zu 100 % in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert. Er bezieht eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung[1] und erhält seit dem 1.4.1995 ein monatliches Pflegegeld von 800 DM. Der Beklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag des Klägers auf Zahlung von Kindergeld ab 1.1.1996 ab, weil der Sohn die Einkommensgrenze von 12 000 DM[2] überschritten habe. Das FG wies die Klage ab. Die Revision des Klägers hatte Erfolg.

 

Entscheidungsgründe

Für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, besteht ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten[3]. Ein behindertes Kind ist dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies trifft zu, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt[4]. Ein behindertes Kind ist erst dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist folglich anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits sowie der finanziellen Mittel des Kindes andererseits, zu prüfen.

Der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Der Grundbedarf kann für 1996 mit dem am Existenzminimum eines Alleinstehenden orientierten Betrag von 12 000 DM beziffert werden[5]. Maßgröße für diesen am Existenzminimum orientierten Betrag ist der im Sozialhilferecht jeweils anerkannte Mindestbedarf. Die Fähigkeit eines behinderten Kindes zum Selbstunterhalt setzt des weiteren voraus, dass ein behinderungsbedingter Mehrbedarf anerkannt wird, den gesunde Kinder nicht haben. Zum behinderungsbedingten Mehrbedarf gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen. Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, so kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag[6] als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen. In die Ermittlung des notwendigen Lebensbedarfs des behinderten Kindes sind zusätzlich persönliche Betreuungsleistungen der Eltern einzubeziehen, soweit sie über die Grundversorgung eines gesunden Kindes hinausgehen. Schließlich sind bei der Ermittlung des Unterhaltsbedarfs des behinderten Kindes gegebenenfalls auch - eventuell pauschal zu ermittelnde -Fahrtkosten zu berücksichtigen. Ist in dieser Weise der gesamte Unterhaltsbedarf des behinderten Kindes ermittelt, so ist in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob das Kind über eine hinreichende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines persönlichen Unterhalts ausreicht.

In Anwendung der vorstehenden Grundsätze verfügt der Sohn nicht über ausreichende Mittel, um seinen gesamten existenziellen Lebensunterhalt zu decken. Der Sohn hat einen Grundbedarf von 12 000 DM sowie einen behinderungsbedingten Mehrbedarf. Da letzterer vom Kläger nicht belegt wurde, ist auf den Pauschbetrag von 7 200 DM des § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG zurückzugreifen. Neben diesem Pauschbetrag ist noch ein Mehrbedarf in Höhe des Pflegegeldes für die persönliche Betreuungsleistung durch den Kläger anzuerkennen, so dass sich ein Gesamtbedarf von 28 800 DM ergibt. Dagegen standen dem Sohn 1996 eine Erwerbsunfähigkeitsrente und Pflegegeld von 14 460 DM bzw. 9 600 DM zur Verfügung. Diese Beträge sind um eine Kostenpauschale von 360 DM bzw. einen Werbungskosten-Pauschbetrag[7] von 200 DM zu kürzen. Es verbleibt sonach ein Betrag von 23 500 DM. Der Sohn war folglich außerstande, sich selbst zu unterhalten. Angesichts der Höhe der Bedarfslücke von rd. 5 300 DM brauchte der Senat nicht über die steuerrechtliche Qualifikation der - im Streitfall niedrigeren - vom Rentenversicherungsträger und vom Versicherten getragenen Sozialversicherungsbeiträge zu entscheiden.

 

Link zur Entscheidung

BFH vom 15.10.1999 - VI R 183/97

[1] Vgl. § 33 Abs. 3 und § 44 SGB VI
[3] Vgl. § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG i.d.F. des JStG 1996, BStBl I1995, S. 438
[4] Vgl. z....

Dieser Inhalt ist unter anderem im WohnungsWirtschafts Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?