Leitsatz (amtlich)
Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass wegen der in § 32a Abs. 1 Satz 2 EStG angeordneten vorrangigen Anwendung des Progressionsvorbehalts des § 32b EStG auch ein zu versteuerndes Einkommen unterhalb des Grundfreibetrags der Einkommensteuer unterliegt.
Sachverhalt
Die Klägerin ist verheiratet. In ihrer ESt-Erklärung 1998 beantragte sie die getrennte Veranlagung. Sie erklärte Einkünfte aus selbständiger Arbeit von 75 465 DM, Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit von 8 252 DM, Einkünfte aus Kapitalvermögen von 657 DM und Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung von ./. 66 229 DM. Da sie vom 1.2.1998 bis 31.8.1998 arbeitslos war, erhielt sie Arbeitslosen- und Übergangsgeld von 29 203 DM. Das Finanzamt ermittelte ein zu versteuerndes Einkommen der Klägerin von 9 739 DM und setzte die Einkommensteuer auf 1 882 DM fest. Dabei bezog es die Lohnersatzleistungen nach § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG in die Berechnung des Steuersatzes ein. Klage und Revision der Klägerin blieben erfolglos.
Entscheidungsgründe
§ 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG schließt die Anwendung des Progressionsvorbehalts in § 32b EStG nicht aus. Nach § 32a Abs. 1 Satz 1 EStG bemisst sich die tarifliche Einkommensteuer nach dem zu versteuernden Einkommen. § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG 1998 bestimmt, dass die Einkommensteuer für ein zu versteuerndes Einkommen bis 12 365 DM 0 DM beträgt. Dieser sog. Grundfreibetrag bezweckt die Freistellung des Existenzminimums von der Einkommensteuer und ist damit Ausdruck des Prinzips der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Zu Recht sind bei der Berechnung des Steuersatzes, der auf das zu versteuernde Einkommen der Klägerin anzuwenden ist, die nach § 3 Nr. 2 EStG steuerfreien Lohnersatzleistungen einbezogen worden; denn die Tarifvorschriften des § 32a Abs. 1 Satz 2 EStG sind nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nur "vorbehaltlich der §§ 32b, 34 und34b" anzuwenden. Das bedeutet, dass der Progressionsvorbehalt des § 32b EStG dem § 32a Abs. 1 Satz 2 EStG im Rang vorgeht.
Nach § 32b Abs. 1 EStG ist auf das nach § 32a Abs. 1 EStG zu versteuernde Einkommen ein besonderer Steuersatz anzuwenden, wenn der Steuerpflichtige während des Veranlagungszeitraums u.a. Arbeitslosen bzw. Übergangsgeld bezogen hat. Wie der besondere Steuersatz zu ermitteln ist, ergibt sich aus § 32b Abs. 2 EStG. Danach ist der Steuersatz anzuwenden, der sich ergibt, wenn bei der Berechnung der Einkommensteuer das nach § 32a Abs. 1 EStG zu versteuernde Einkommen im Fall des Abs. 1 Nr. 1 EStG vermehrt oder vermindert wird um die Summe der Leistungen nach Abzug des Arbeitnehmerpauschbetrages, soweit er nicht bei der Ermittlung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit abzuziehen ist. Diese Regelung ist auch anzuwenden, wenn das zu versteuernde Einkommen unterhalb des Grundfreibetrages liegt. Auch Einkommensbeträge in diesem Bereich zählen zum zu versteuernden Einkommen i.S. von § 32a EStG. Der Grundfreibetrag ist nicht als sachliche Steuerbefreiung ausgestaltet, sondern ist Teil der Tarifvorschriften. Durch die gesetzlich vorgesehene Hinzurechnung der steuerfreien Einnahmen und die Anwendung des daraus errechneten Steuersatzes bleibt der Grundfreibetrag auch nicht außer Ansatz. Er wird vielmehr im Rahmen der Tarifermittlung - wie für alle anderen Einkommen auch - berücksichtigt. Diese Auslegung folgt aus Wortlaut und Zweck der Regelung des § 32a und § 32b EStG und entspricht der zu dieser Frage in der Literatur vertretenen h.M..
Die Anwendung des § 32b EStG führt im Streitfall dazu, dass eine Einkommensteuer von 1 882 DM anfällt, obwohl das zu versteuernde Einkommen der Klägerin lediglich 9 739 DM beträgt und damit unter dem Grundfreibetrag liegt. Diese gesetzliche Folge ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Einbeziehung dieser Einkommenssurrogate in die Berechnung des Steuersatzes verletzt auch nicht die allgemeine Handlungsfreiheit der Klägerin in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen oder im beruflichen Bereich.
Link zur Entscheidung
BFH vom 9.8.2001 – III R 50/00