Leitsatz (amtlich)

Die schlüssige Rüge der Verletzung des Rechts auf Gehör erfordert keine Ausführungen darüber, was bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen worden wäre und dass dieser Vortrag die Entscheidung des Gerichts hätte beeinflussen können, wenn das Gericht verfahrensfehlerhaft in Abwesenheit des Rechtsmittelführers aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat.

 

Sachverhalt

Die Kläger, zusammen veranlagte Eheleute, erhoben Klage gegen den ESt-Be-scheid 1985. Sie waren vor dem FG nicht durch einen Bevollmächtigten vertreten. Nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung, die im Gebäude des beklagten Finanzamts anberaumt war, beantragten sie, den Termin aufzuheben, weil eine neutrale und objektive Verhandlung im Gebäude des Finanzamts nicht möglich sei. Das FG lehnte die Terminaufhebung ab. In der mündlichen Verhandlung erschien für die Kläger niemand. Nach Schließung der mündlichenVerhandlung verkündete das FG den Beschluss, dass eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde. Nach der mündlichen Verhandlung ging beim FG noch am selben Tag ein Schreiben der Kläger mit einem den Ehemann betreffenden ärztlichen Attest vom selben Tag ein. In dem Schreiben heißt es, die Kläger gingen davon aus, dass ihnen wegen der Krankheit des Klägers keinerlei Nachteile im Verfahren entstünden. Andernfalls werde "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" beantragt. Das FG wies die Klage ab. Mit ihrer Revision machen die Kläger geltend, ihnen sei das rechtliche Gehör versagt worden. Das FG habe den Termin zur mündlichen Verhandlung verlegen und diese wieder eröffnen müssen. Ausführungen darüber, was sie bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätten und dass dies die Entscheidung des FG hätte beeinflussen können, machten die Kläger nicht. Der für das Revisionsverfahren zuständige VIII. Senat des BFH sah solche Ausführungen für die Schlüssigkeit der Gehörsrüge als entbehrlich an und hielt deshalb diese Rüge für zulässig und begründet. Da er aber mit dieser Entscheidung von der Rechtsprechung anderer Senate des BFH abgewichen wäre und diese - teilweise - der Abweichung nicht zustimmten, legte der VIII. Senat die Streitfrage dem Großen Senat zur Entscheidung vor[1].

 

Entscheidungsgründe

Hat das Gericht aufgrund einer verfahrensfehlerhaft ohne den Rechtsmittelführer durchgeführten mündlichen Verhandlung entschieden, so wird die Ursächlichkeit dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs für die angefochtene Entscheidung gemäß § 119 Nr. 3 FGO unwiderlegbar vermutet. Die Rüge dieses Verfahrensmangels[2] erfordert daher nicht die Darlegung, was der Rechtsmittelführer in der mündlichen Verhandlung noch vorgetragen hätte und inwieweit dies die Entscheidung hätte beeinflussen können.

Nach § 119 Nr. 3 FGO ist ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war. Die Vorschrift stellt eine ausnahmslos ("stets") gültige unwiderlegbare Vermutung auf, dass der Verfahrensmangel für die Entscheidung ursächlich war. Die gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 FGO grundsätzlich erforderliche Prüfung, ob das angefochtene Urteil auf der Rechtsverletzung beruht, hat mithin im Falle der Versagung des rechtlichen Gehörs i.S. von § 119 Nr. 3 FGO - ebenso wie bei den übrigen in § 119 FGO genannten absoluten Revisionsgründen - zu unterbleiben. Allerdings gilt nach Auffassung der bisherigen Rechtsprechung des BFH und des BVerwG die Kausalitätsvermutung des § 119 Nr. 3 FGO dann nicht, wenn der Gehörsverstoß nur einzelne Feststellungen oder rechtliche Gesichtspunkte betrifft, die für den Ausgang des Rechtsstreits offensichtlich nicht entscheidungserheblich sind. Insoweit bleibt die revisionsrichterliche Prüfung möglich, ob es auf diesen Einzelpunkt ankommen konnte[3]. Nach Auffassung des Großen Senats gilt die unwiderlegbare Kausalitätsvermutung des § 119 Nr. 3 FGO aber jedenfalls dann uneingeschränkt, wenn ein Gericht das rechtliche Gehör verletzt, weil es verfahrensfehlerhaft in Abwesenheit des Klägers aufgrund mündlicher Verhandlung entscheidet. Dies folgt zunächst aus dem systematischen Zusammenhang der Regelung des § 119 Nr. 3 FGO mit den Vorschriften des § 119 Nr. 4 und 5 FGO. Die einschränkungslose Geltung der Kausalitätsvermutung des § 119 Nr. 3 FGO für den Fall, dass das Gericht verfahrensfehlerhaft in Abwesenheit des Rechtsmittelführers aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat, entspricht auch dem allen absoluten Revisionsgründen gemeinsam zugrunde liegenden Gesetzeszweck.

Eine andere Beurteilung folgt auch nicht aus der Notwendigkeit, Fällen prozessualen Missbrauchs und Fällen von Prozessverschleppung zu begegnen. Hierzu bietet das Verfahrensrecht andere wirksame Möglichkeiten: So kann die Ablehnung einer Aufhebung des Termins zur mündlichen Verhandlung trotz des Vorliegens erheblicher Gründe gemäß § 227 ZPO rechtmäßig sein, wenn der Antrag der Prozessverschleppung dient oder der Antragsteller seine Mitwirkun...

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