Dipl.-Finw. (FH) Walter Niermann
Leitsatz
Ein bei Inanspruchnahme des Arbeitgebers als Lohnsteuer-Haftungsschuldner beachtlicher entschuldbarer Rechtsirrtum des Arbeitgebers liegt regelmäßig nicht vor, wenn dieser die Möglichkeit der Anrufungsauskunft (§ 42e EStG) hat, davon jedoch keinen Gebrauch macht. Auch bei Schätzung der Höhe der Lohnsteuer-Haftungsschuld sind alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Ein Verstoß gegen § 162 Abs. 1 Satz 2 AO kann nicht durch pauschale Abschläge auf die Haftungsschuld geheilt werden.
Sachverhalt
Ein Arbeitgeber beschäftigte je nach Auftragsvolumen ca. 900 bis 1000 Interviewer, die er als freie Mitarbeiter behandelte und für die er weder Lohnsteuer noch Sozialversicherungsbeiträge abführte. Nach einer Lohnsteuer-Außenprüfung kam das Finanzamt zu dem Ergebnis, dass die Interviewer als Arbeitnehmer tätig waren. Es nahm den Arbeitgeber daher für nicht abgeführte Lohnsteuer in Haftung, die es in allen Fällen nach Steuerklasse VI berechnete. In der Einspruchsentscheidung kürzte das Finanzamt den Lohnsteuerhaftungsbetrag pauschal um 10 % für die Fälle, in denen die Interviewer möglicherweise ihre Einkünfte bereits im Rahmen der eigenen Einkommensteuer-Veranlagung versteuert hatten. Das FG erhöhte den Abschlag auf die Haftungssumme auf insgesamt 20 %. Im Übrigen wies es die Klage ab.
Der BFH verwies den Fall an das FG zurück. Dieses habe zwar festgestellt, dass die Interviewer keine einem Selbständigen vergleichbare Initiative entfalten konnten und hinsichtlich Ort und Inhalt ihrer Tätigkeit weisungsgebunden und organisatorisch in den Betrieb der Steuerpflichtigen eingebunden waren. Hiervon ausgehend habe es daher zutreffend entschieden, dass das Finanzamt den Arbeitgeber für den unterbliebenen Lohnsteuerabzug in Haftung nehmen durfte. Der BFH beanstandete jedoch die Art der Schätzung der Höhe der Lohnsteuer-Haftungsschuld.
Hinweis
Losgelöst von dem konkret entschiedenen Einzelfall sind 2 für die Prüfungspraxis wichtige Aussagen des BFH hervorzuheben:
- Die Inanspruchnahme des Arbeitgebers als Haftungsschuldner kann ausgeschlossen sein, falls dieser sich bezüglich des unterlassenen Lohnsteuerabzugs in einem entschuldbaren Rechtsirrtum befunden hat. Ein solcher Rechtsirrtum liegt jedoch nicht vor, wenn der Arbeitgeber die Möglichkeit der Anrufungsauskunft hat, von dieser jedoch keinen Gebrauch macht. Insbesondere bei personalintensiven Unternehmen stellt die Qualifizierung der Beschäftigten als Arbeitnehmer oder Selbständige eine besonders gewichtige Grundfrage für die weitere steuer- und sozialversicherungsrechtliche Behandlung dar. Bei einer solchen Ausgangslage hält der BFH das Unterlassen des Lohnsteuer-Einbehalts ohne Anrufungsauskunft regelmäßig für vorwerfbar, einen etwaiger Rechtsirrtum des Arbeitgebers somit für nicht entschuldbar. Insbesondere Großunternehmen sind gut beraten, diese Sichtweise zu beherzigen.
- Bei Schätzung der Höhe der Lohnsteuer-Haftungsschuld sind alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Die Schätzergebnisse müssen schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein. Ein pauschaler Abschlag auf die nach Lohnsteuerklasse VI ermittelte Haftungsschuld wird dieser Vorgabe nicht gerecht. Es bleibt abzuwarten, ob die Finanzverwaltung insoweit der Auffassung des BFH folgt, da dieser in der Vergangenheit die Inanspruchnahme des Arbeitgebers unter Berücksichtigung der Lohnsteuerklasse VI grundsätzlich gebilligt hatte, falls dem Prüfer keine Lohnsteuerkarte vorgelegt werden konnte.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil v. 29.5.2008, VI R 11/07.