Leitsatz

  1. Die Zurücknahme einer Klage ist unwirksam, wenn sie durch den nicht zutreffenden Hinweis des Vorsitzenden Richters des FG veranlasst worden ist, dass die Klage unzulässig sei. Dies gilt auch, wenn die Klagerücknahme von einem rechtskundigen Prozessbevollmächtigten erklärt worden ist.
  2. Macht der Kläger mit der Beschwerde gegen den zwischenzeitlich ergangenen Einstellungsbeschluss des FG die Unwirksamkeit der Klagerücknahme geltend, ist darin ein Antrag auf Fortsetzung des Klageverfahrens zu sehen.
 

Sachverhalt

Ein Steuerpflichtiger klagte gegen die Feststellungsbescheide über den verbleibenden Verlustabzug zur Einkommensteuer zum 31.12.1995 bis 31.12.1998 sowie gegen die Einkommensteuerbescheide 1996 bis 1998. Der Vorsitzende Richter des FG äußerte in einem Schreiben an den Kläger Zweifel an der Zulässigkeit der gesonderten Anfechtung der Verlustfeststellungsbescheide; in einem weiteren Schreiben wies er auf die gerichtsgebührenfreie Rücknahme der Klage hin und stellte in Aussicht, die Klage sonst als unzulässig zu verwerfen. Darauf nahm der vom Kläger zwischenzeitlich bestellte Rechtsanwalt die Klage gegen die Verlustfeststellungsbescheide zurück. Der Vorsitzende beschloss insoweit die Einstellung des Verfahrens. Nach Eingang der Einkommensteuererklärungen teilte das Finanzamt mit, die Bescheide könnten nicht mehr geändert werden, weil die Klage mangels Beschwer unzulässig sei. Eine Änderung der Verlustfeststellungsbescheide sei wegen der Klagerücknahme nicht möglich. Darauf regte der Vorsitzende "zur Bereinigung der verfahrensrechtlichen Situation" an, gegen den Einstellungsbeschluss außerordentliche Beschwerde einzulegen. Dem folgte der Kläger und nahm gleichzeitig die Klage gegen die Einkommensteuerbescheide zurück. Das FG hob den Einstellungsbeschluss auf und beschloss, das Verfahren wegen Verlustfeststellung fortzusetzen. Auf den Antrag des Finanzamts, die Klage als unzulässig zu verwerfen, weil sie wirksam zurückgenommen worden sei, entschied das FG durch Zwischenurteil, dass die Klage zulässig sei.

 

Entscheidung

Der BFH wies die Revision des Finanzamts gegen das Zwischenurteil als unbegründet zurück. Das FG sei zu Recht davon ausgegangen, dass die Klage zulässig und das Klageverfahren fortzusetzen sei. Die Beschwerde gegen den Einstellungsbeschluss sah der BFH als Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens an, mit dem nachträglich die Unwirksamkeit der Klagerücknahme geltend gemacht wird. Der Antrag sei auch rechtzeitig innerhalb eines Jahres nach Ergehen des Einstellungsbeschlusses gestellt worden[1]. Die Klagerücknahme sei unwirksam, obwohl sie von einem sachkundigen Prozessbevollmächtigten erklärt worden war. Denn der bevollmächtigte Rechtsanwalt sei durch den unzutreffenden Hinweis des Vorsitzenden in unzulässiger Weise beeinflusst worden.

 

Praxishinweis

Der BFH hat mit dieser Entscheidung erstmals die von einem sach- und rechtskundigen Prozessbevollmächtigten erklärte Rücknahme einer Klage als unwirksam angesehen. Bislang war lediglich die Klagerücknahme von rechtsunkundigen und unerfahrenen Steuerpflichtigen als unwirksam behandelt worden, wenn die Rücknahme durch sachlich grob fehlerhafte Belehrungen der Finanzbehörden oder -gerichte veranlasst worden war[2]. Bei einem Steuerberater oder Rechtsanwalt wurde stets vorausgesetzt, dass dieser das Prozessrisiko – auch bei einer unzutreffenden amtlichen Belehrung – in eigener sorgfältiger Überlegung abzuwägen habe[3].

Dabei wird es grundsätzlich auch bleiben; denn der BFH betont im Besprechungsurteil, dass es sich um einen Ausnahmefall handelt. Diesen hielt er für gegeben, weil der Vorsitzende Richter des FG, dem wegen seiner Prozessförderungs- und Fürsorgepflichten eine Art "prozessuale Garantenstellung" zukommt, dem Prozessvertreter vor dem Hintergrund einer verfahrensrechtlich komplizierten Situation die Rücknahme der Klage nahe gelegt hatte.

 

Link zur Entscheidung

BFH-Urteil vom 6.7.2005, XI R 15/04

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