Leitsatz

Erklären die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt, können dem Finanzamt die Kosten auferlegt werden, wenn es einen bei Vorliegen von Musterverfahren sachgemäßen Antrag des Klägers auf Ruhen des Verfahrens ablehnt. Die volle Kostenlast kann in einem solchen Fall auch dann billigem Ermessen entsprechen, wenn das BVerfG eine verfassungswidrige Norm weiterhin für anwendbar erklärt hat und der Kläger deshalb nicht obsiegen kann.

 

Sachverhalt

Ein Ehepaar machte beim Lohnsteuer-Jahresausgleich 1988 geltend, der Grundfreibetrag sei verfassungswidrig zu niedrig. Dem Antrag, das Einspruchsverfahren ruhen zu lassen, umeine Klageflut in Massenverfahren zu vermeiden, zumal wegen des Grundfreibetrags ab 1986 bereits Revisionen beim BFH anhängig seien, entsprach das Finanzamt nicht, sondern wies den Einspruch unter Berufung auf ein Urteil des FG Köln[1] zurück. Auch der Ruhensantrag vor dem FG hatte keinen Erfolg. Vielmehr wurde zusammen mit ca. 70 anderen gleichgelagerten Sachen terminiert, die Klagen abgewiesen und die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Nachdem das BVerfG zwischenzeitlich zum Grundfreibetrag entschieden hat, dass das Existenzminimumvon der Steuer verschont werden müsse, aber dem Gesetzgeber eine Regelungsfrist bis 1996 eingeräumt hatte[2], beriefen sich die Ehegatten darauf, dass auch der Kinderfreibetrag der Höhe nach verfassungswidrig sei. Allerdings hatten sie nach den Vorgaben des BVerfG[3] nicht mit einem nachgebesserten Kinderfreibetrag zu rechnen. Nunmehr erklärten beide Beteiligte den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt und beantragten jeweils, die Kosten dem Gegner aufzuerlegen. Der BFH legte die Kosten des gesamten Verfahrens dem Finanzamt auf.

 

Entscheidung

Nach § 138 Abs. 1 FGO ist die Kostenentscheidung nach billigem Ermessen zu treffen, wobei der bisherige Sach- und Streitstand zu berücksichtigen ist. Bei der amallgemeinen Gerechtigkeitsempfinden auszurichtenden Billigkeitsentscheidung kann auch einzubeziehen sein, welcher Beteiligte Anlass zum gerichtlichen Verfahren gegeben hat. Im Streitfall entspricht es billigem Ermessen, dem Finanzamt wegen seiner fortdauernden Weigerung, sowohl das Einspruchs- als auch das Klageverfahren ruhen zu lassen, die Kosten aufzuerlegen. Da die Prozessführungsgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG nicht verletzt wird, wenn ein Gericht bei Massenverfahren aus der Vielzahl erhobener Klagen einige Musterprozesse entscheidet und die übrigen aussetzt, gehört es umgekehrt jedenfalls dann zum Recht individueller Prozessführung eines Bürgers, dass bei Musterprozessen, die bereits anhängig sind oder anhängig gemacht werden sollen, sein Verfahren zum Ruhen kommt, wenn sein diesbezügliches Begehren nicht von sachwidrigen Motiven getragen ist. Solche seien hier nicht erkennbar. Dieser Rechtsgedanke hat sich auch in den späteren Neuregelungen von § 165 Abs. 1 Satz 2 und § 363 Abs. 2 AO niedergeschlagen. Diesem gesetzgeberischen Anliegen hätten die Ruhensanträge der Ehegatten entsprochen. Dem Umstand, dass die Eheleute in der Sache letztlich keinen Erfolg gehabt hätten, wird im Rahmen der hier anzustellenden Billigkeitserwägungen deswegen keine nennenswerte Bedeutung beigemessen, weil es für den rechtsuchenden Bürger letztlich nicht vorhersehbar ist, ob das BVerfG eine Norm für nichtig oder nur als mit dem GG nicht vereinbar erklärt und gegebenenfalls dem Gesetzgeber Regelungsfristen einräumt, bis zu denen eine verfassungswidrige Norm hinzunehmen ist.

 

Praxishinweis

Die Entscheidung ist deswegen bemerkenswert, weil sie für verfassungsrechtliche Fragen von der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung abgeht, dass die Kosten nach § 138 Abs. 1 FGO in erster Linie gemäß dem mutmaßlichen Ausgang des Verfahrens in der Sache zu verteilen sind. Von diesem Grundsatz war auch der herangezogene BFH-Beschluss[4] ausgegangen, wobei dort der Verfahrensausgang noch ungewiss war, weil es sich um eine Aussetzungssache handelte, während hier fest stand, dass die Eheleute in der Sache auch nicht teilweise obsiegen konnten. Im Übrigen wurden die Kosten dem Finanzamt seinerzeit nur hälftig auferlegt, obwohl es dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nachträglich entsprochen hatte.

Da nicht mitgeteilt wird, welchen Grundfreibetrag die Eheleute als verfassungskonformansahen, kann auch nicht beurteilt werden, ob sie ein übermäßiges Prozessrisiko eingegangen sind und insofern Anlass jedenfalls zu einer Kostenteilung bestand. Was die nachträgliche Änderung der § 165 Abs. 1 und § 363 Abs. 2 AO betrifft, erscheint es nicht unproblematisch, das Finanzamt so zu behandeln, als hätte es diese Rechtslage schon zum Zeitpunkt des Ergehens der Einspruchsentscheidung gegeben. Im Übrigen wird auch nicht erläutert, welches konkrete vergleichbare Verfahren damals bereits beim BFH anhängig war. Jedenfalls wurden vor der klärenden Entscheidung des BVerfG vom BFH sehr viele Revisionen in Grundfreibetragsfällen als unbegründet zurückgewiesen, bei denen das zu versteuernd...

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