Leitsatz
- Sind Ermessensrichtlinien erlassen, überprüfen die Steuergerichte auch, ob die Richtlinie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhält und ob sie von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch macht.
- Lehnt das Finanzamt, gestützt auf den Erlass über Steuererklärungsfristen vom 2.1.1997 (BStBl I 1997, S. 125), einen Fristverlängerungsantrag allein mit der Begründung ab, der Steuerpflichtige habe nicht Personen oder Gesellschaften i.S. des § 3 StBerG oder Buchstellen von Körperschaften und Vereinigungen i.S. des § 4 Nr. 3 und 8 StBerG, sondern einen Lohnsteuerhilfeverein mit der Anfertigung seiner Einkommensteuererklärung beauftragt, ist diese Entscheidung rechtswidrig.
Sachverhalt
Ein Arbeitnehmer beantragte als Mitglied eines Lohnsteuerhilfevereins im April 1997, die nach § 149 Abs. 2 AO im Mai ablaufende Frist für die Abgabe der Einkommensteuererklärung 1996 unter sinngemäßer Anwendung des Erlasses über Steuererklärungsfristen bis 30.9.1997 zu verlängern. Das lehnte das Finanzamt mit der Begründung ab, der Lohnsteuerhilfeverein gehöre nicht zu dem im Erlass aufgeführten Beraterkreis. Das nach Abgabe der Steuererklärung am 4.9.1997 als Fortsetzungsfeststellungsklage fortgeführte Verfahren wies das FG ab. Der BFH beurteilte die Ablehnung der Fristverlängerung als rechtswidrig.
Entscheidung
Hat sich ein Verpflichtungsbegehren – hier: auf Fristverlängerung – durch Abgabe der Steuererklärung erledigt, kann auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ablehnung übergegangen werden, wenn – wie hier – Wiederholungsgefahr besteht. Die Entscheidung, ob die Frist zur Abgabe der Steuererklärung über den Mai des Folgejahrs hinaus verlängert wird, steht in pflichtgemäßem Ermessen des Finanzamts. Ist die Entscheidung durch Ermessensrichtlinien übergeordneter Behörden vorgeprägt, prüfen die Gerichte, ob die Behörde sich an die Richtlinie gehalten hat und ob diese ihrerseits die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhält. Letzteres ist hier nicht der Fall. Zwar ist es sachgerecht, dass die Richtlinie nicht nur die Arbeitsbelastung des Beteiligten, sondern auch die seines Bevollmächtigten einbezieht und über § 109 AO hinaus eine abgestufte dreiteilige Verlängerungsmöglichkeit vorsieht. Sachwidrig ist dagegen, dass innerhalb der Gruppe der zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen Befugten differenziert wird. Die berufliche Qualifikation kann zwar für den zulässigen Umfang des Beratungsfelds herangezogen werden. Sie sagt aber innerhalb der Beratungsbefugnis nichts über den Arbeitsanfall aus, zumal bei anderen Beratergruppen als Lohnsteuerhilfevereinen Fristverlängerungen auch für einfachste Erklärungen gewährt werden. Da hier nur eine einzige Entscheidung ermessensgerecht war, nämlich die Gleichbehandlung der Lohnsteuerhilfevereine mit den anderen Bevollmächtigten, somit eine Ermessensreduzierung auf Null bestand, konnte der BFH durcherkennen und die Rechtswidrigkeit der abgelehnten Fristverlängerung aussprechen.
Praxishinweis
Die bisherige Handhabung, dass Lohnsteuerhilfevereine anders als andere zugelassene Bevollmächtigte nicht generell, sondern nur aufgrund eines einzelfallbezogenen Antrags Fristverlängerung erhalten, führt bei ihnen zu Mehrarbeit und insofern zu einer Diskriminierung. Diese entfällt nun, da die Verwaltung die Entscheidung des BFH akzeptiert und die Ermessensrichtlinie anpasst. Dies kann zur Folge haben, dass u.a. Rentner, die infolge der Änderungen durch das Alterseinkünftegesetz verstärkt zu veranlagen sind, Zeit zur Abgabe der Steuererklärung auch dann gewinnen, wenn sie sich nicht von einem Steuerberater, sondern von einem Lohnsteuerhilfeverein vertreten lassen.
Link zur Entscheidung
BFH-Urteil vom 11.4.2006, VI R 64/02