Leitsatz

  1. Für Verluste aus Spekulationsgeschäften i.S. von § 23 EStG in den für die Jahre vor 1999 geltenden Fassungen sind, soweit diese Vorschriften auch unter Berücksichtigung des Urteils des BVerfG vom 9.3.2004 (2 BvL 17/02, INF 2004, S. 286) anwendbar bleiben, in den noch offenen Altfällen die allgemeinen einkommensteuerrechtlichen Regelungen über Verlustausgleich und Verlustabzug anzuwenden.
  2. Für Streitjahre bis einschließlich 1993 bleibt § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG jedenfalls anwendbar, auch wenn das BVerfG diese Vorschrift, soweit sie Veräußerungsgeschäfte aus Wertpapieren betrifft, durch Urteil vom 9.3.2004 (2 BvL 17/02, INF 2004, S. 286) in der für 1997 und 1998 geltenden Fassung für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig erklärt hat.
 

Sachverhalt

A betrieb Wertpapiergeschäfte mit Aktien, Optionsscheinen und Investmentanteilen und erklärte für 1990 einen Spekulationsgewinn und für 1991 einen Spekulationsverlust, den das Finanzamt aber gemäß § 23 Abs. 4 Satz 3 EStG a.F. unberücksichtigt ließ. Einspruch und Klage blieben erfolglos, nicht aber die Revision.

 

Entscheidung

  1. Der BFH wendet auf diesen Fall die Grundsätze des BVerfG-Beschlusses vom 30.9.1998[1] an. Danach ist das Verlustausgleichsverbot des § 22 Nr. 3 Satz 3 EStG a.F. mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz unvereinbar. Der völlige Ausschluss der Verlustverrechnung verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Diese Grundsätze überträgt der BFH auch auf § 23 EStG. Dafür sprechen zunächst die systematische ("sonstige Einkünfte") und historische Verknüpfung der beiden Vorschriften. Dem Nettoprinzip entsprechend hatte der Gesetzgeber ursprünglich bei beiden Vorschriften eine Verlustverrechnung zugelassen. Später hatte er den Abzug von Veräußerungsverlusten nur bis zur Höhe der in demselben Jahr erzielten Veräußerungsgewinne zugelassen und erst ab 1999 wieder erweitert. Nach Auffassung des BFH durchbricht das Verlustausgleichs- und -abzugsverbot in § 23 Abs. 4 Satz 3 EStG a.F. das Nettoprinzip in einem nicht mehr zu rechtfertigenden Ausmaß. Obschon er damit diese Regelung als verfassungswidrig ansieht, muss er nicht das BVerfG anrufen, denn er kann das Verlustausgleichs- und -abzugsverbot verfassungskonform einschränken. Allerdings war es ihm verwehrt, § 23 Abs. 3 Satz 9 EStG in der ab 1999 geltenden Fassung auch für Jahre vor 1999 anzuwenden; denn der Gesetzgeber hatte in der ab 1999 geltenden Neuregelung des Verlustausgleichs die noch offenen Altfälle unberücksichtigt gelassen, weil er eine derartige Regelung für entbehrlich hielt. Aus dieser Entscheidung kann aber nicht geschlossen werden, dass der Gesetzgeber den seit jeher bestehenden systematischen Zusammenhang der Einkünfte i.S. von § 22 Nr. 2 und 3 EStG lockern und für Altfälle unterschiedliche Formen der Verlustberücksichtigung einführen wollte. Sein Normkonzept setzt der BFH folgerichtig um, indem Verluste für § 22 Nr. 2 und 3 EStG anhand der Grundsätze der BVerfG gleichartig zu berücksichtigen sind.
  2. Wichtig für den Rechtsanwender ist auch der zweite Leitsatz der Entscheidung: Danach ist § 23 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b EStG a.F. bis einschließlich 1993 anwendbar. Das BVerfG hatte die Vorschrift im Urteil vom 9.3.2004[2] nur in den Veranlagungszeiträumen 1997 und 1998 für nichtig erklärt. Jetzt müssen die FG prüfen, ob auch in den Jahren zuvor ein verfassungsrechtlich erhebliches Vollzugsdefizit vorliegt und diese Vorschrift gegebenenfalls dem BVerfG vorlegen. Bis einschließlich 1993 hat der BFH jedoch "den Deckel zugemacht". Allerdings gibt es ein weiteres Verfahren, in dem es um den Veranlagungszeitraum 1994 geht und über das der IX. Senat bald entscheiden wird.
 

Praxishinweis

Die neue Rechsprechung, nach der Verluste vor 1999 abziehbar sind, gilt nur für noch offene Fälle. Allerdings gilt das nicht für die Jahre 1997 und 1998. Denn für diesen Zeitraum gilt die Vorschrift nicht. Sie ist nichtig. Daraus folgt: Spekulationsgewinne sind in diesem Zeitraum mangels einer Steuernorm nicht steuerbar und deshalb können auch Verluste nicht geltend gemacht werden. Wer den guten Wein genießt, darf den schlechten nicht verweigern.

 

Link zur Entscheidung

BFH-Urteil vom 1.6.2004, IX R 35/01

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