Leitsatz
Die Praxis sollte aus der vorliegenden BFH-Entscheidung die Lehre ziehen, dass jedes Unternehmen, das von den Finanzbehörden (insbesondere der Steuerfahndung) als Beteiligter an einem Umsatzsteuerkarussell mit Umsatzsteuersanktionen überzogen wird, schon im Vorverfahren alles verfahrensrechtlich Mögliche tun sollte, um vor dem Finanzgericht den vollständigen Sachverhalt für eine zutreffende Würdigung zu erreichen. Insbesondere sollte nicht – wie offenbar im Streitfall – darauf vertraut werden, dass das finanzgerichtliche Verfahren dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren folgen werde, das zu keinen gravierenden strafrechtlichen Folgerungen kam. Denn auch die Erfahrung, dass finanzgerichtliche Verfahren regelmäßig vorsichtiger mit der Annahme von Steuerbetrug sind, garantiert nichts.
Dem Fall lag die Annahme der Steuerfahndung zugrunde, die Klägerin (GmbH) habe sich wie folgt an einem betrügerischen europaweiten Umsatzsteuerkarussell beteiligt:
Waren werden aus einem anderen Mitgliedstaat an einen Erwerber im Inland steuerfrei geliefert. Der Erwerber (sog. Missing Trader) veräußert die Ware mit einem geringen Aufschlag an einen Abnehmer (sog. Buffer I), der den in der Rechnung des "Missing Trader" ausgewiesenen Steuerbetrag als Vorsteuer abzieht. Der "Missing Trader" zahlt – wie von vornherein beabsichtigt – keine Umsatzsteuer und ist nicht zu belangen, weil er nicht auffindbar ist. Der "Buffer I" veräußert die Ware an einen sog. Buffer II. Die Waren werden schließlich nach dem Vorsteuerabzug durch den "Buffer II" von diesem an einen Exporteur (sog. Distributor) veräußert, der sie wieder steuerfrei in den Ausgangsmitgliedstaat liefert und die ihm berechnete Umsatzsteuer als Vorsteuer abzieht.
Nach den Feststellungen der Steuerfahndung nahm die GmbH innerhalb des Karussells die Stellung eines "Buffer II" ein. Sie bezog dabei ihre Waren nahezu ausschließlich von einem anderen "Buffer", der Firma B, und verkaufte die erworbenen Computerteile an weitere, an dem Karussell als sog. Distributoren beteiligte Firmen, insbesondere auch an die Firma C. Hierbei war es nach Ermittlungen der Steuerfahndung zu Doppel- und Mehrfachdurchläufen derselben Ware gekommen.
Der BFH beschränkte sich letztlich auf die Wiedergabe der zwischenzeitlich entwickelten (noch sehr abstrakten) Grundsätze der EuGH- und BFH-Rechtsprechung, dass
- der Vorsteuerabzug zu versagen ist, wenn der zugrunde liegende Eingangsumsatz tatsächlich durchgeführt und versteuert wurde, aber aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligte, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war; und dass zur Bestimmung des "Kennenmüssens" Folgendes gilt:
- Handelt es sich bei dem Unternehmer um eine GmbH, ist dieser nicht nur das etwaige Wissen ihres Geschäftsführers als ihres gesetzlichen Vertreters nach § 35 GmbHG, sondern auch das ihrer sonstigen Angestellten in analoger Anwendung von § 166 BGB zuzurechnen.
Im Übrigen zog sich der BFH auf die revisionsrechtlichen Grenzen der Sachverhaltswürdigung zurück.
Für einen vom Ergebnis des finanzgerichtlichen Verfahrens vielleicht überraschten Kläger bringt es leider wenig, wenn der überwiegende Teil der Revisionsentscheidung dazu ergeht, was er ggf. im Vorverfahren hätte tun müssen. Das ist aber leider oft auch eine Folge von nicht lege artis geführten Prozessen.
Offen ist wohl noch die für die Praxis wichtige Frage, wie sich in solchen Fällen § 25d UStG auswirkt. Da nach dem Sachverhalt bei "einem vorangegangenen Umsatz" (mehr verlangt § 25d UStG nicht) – nämlich dem des "Missing Traders" – keine Versteuerung erfolgte und der Kläger nach der Entscheidung davon Kenntnis hätte haben müssen, könnte er – zusätzlich zum Entzug seines Vorsteuerabzugsrechts – auch mit der Haftung nach § 25d UStG für die Steuer aus dem Umsatz des Missing Traders belangt werden. Das dürfte aber des Guten zu viel sein.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil v. 19.5.2010, XI R 78/07, BFH/NV 2010 S. 2132