Leitsatz (amtlich)

Dem Großen Senat wird gemäß § 11 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: Ist die Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 der Abgabenordnung auch dann gewahrt, wenn der Bescheid, der vor Ablauf der Steuerfestsetzungsfrist den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Behörde verlassen hat, dem Empfänger nicht zugeht, obwohl die Behörde nach Lage der Steuerakten alles getan hat, dass er hätte zugehen können, aber nach Ablauf der Festsetzungsfrist ein inhaltsgleicher Bescheid ergeht, der dem Empfänger auch bekannt gegeben wird?

 

Sachverhalt

Das Finanzamt erließ am 27.4.1989 einen Einheitswertbescheid auf den 1.1.1987, mit dem es den Einheitswert auf 130400 DM und die Grundstücksart "Einfamilienhaus" feststellte. Es folgte dabei den Angaben des Klägers in seiner 1988 abgegebenen Erklärung, wonach die Dachgeschosse im Haupt- und Nebengebäude noch nicht bezugsfertig waren und die zu Wohnzwecken genutzte Fläche die gewerblich genutzte Fläche überwog. 1994 gab der Kläger bei einer Außenprüfung an, den Bescheid vom April 1989 nicht erhalten zu haben. Das Finanzamt versandte darauf am 21.12.1994 einen weiteren - inhaltsgleichen - Bescheid. Dagegen legte der Kläger Einspruch ein, mit dem er sich gegen die Feststellung der Grundstücksart "Einfamilienhaus" wandte und den das Finanzamt als unbegründet zurückwies. Auch die Klage, mit der der Kläger die Bewertung als gemischt genutztes Grundstück erstrebte, hatte keinen Erfolg[1]. Mit der Revision rügt der Kläger fehlerhafte Anwendung des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO sowie des § 75 Abs. 4 und 5 BewG. Im Revisionsverfahren hat der II. Senat des BFH dem Großen Senat die vorstehende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt.

 

Entscheidungsgründe

§ 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO wird von mehreren Senaten des BFH dahin ausgelegt, dass die Festsetzungsfrist unabhängig davon gewahrt ist, ob der rechtzeitig den Bereich der zuständigen Behörde verlassende Bescheid wirksam wird, insbesondere demjenigen, für den er bestimmt ist, bekannt gegeben wird[2]. Erforderlich ist allerdings für den Fall, dass der Bescheid dem Empfänger nicht zugeht, dass die Behörde ein zweites Mal einen gleichlautenden Bescheid erlässt, und dieser Bescheid dem Empfänger tatsächlich bekannt gegeben wird. Außerdem muss die zuständige Finanzbehörde bei Abgang des ersten Bescheids alle Voraussetzungen erfüllt haben, die für den Erlass eines wirksamen Bescheides vorgeschrieben sind. Dazu genügt, dass der Bescheid nach dem Inhalt der Steuerakten hätte wirksam werden können.

Dieser Rechtsprechung folgt der Senat nicht. Er verneint die Vorlagefrage aus folgenden Gründen: § 169 AO gehört zu den unter dem Titel "Festsetzungsverjährung" zusammengefassten Vorschriften und ist selbst mit "Festsetzungsfrist" überschrieben. In diesem Kontext regelt § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO die unter der Geltung der RAO noch umstrittene Frage, ob für die Fristwahrung auf den Zeitpunkt des Zugangs der Steuerfestsetzung oder auf deren Absendung durch die zuständige Finanzbehörde abzustellen ist. Die Frage entscheidet § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO dahin, dass auf den Zeitpunkt der Absendung abzustellen ist. Dabei ist als selbstverständlich vorausgesetzt, dass der rechtzeitig abgesandte Bescheid auch tatsächlich zugeht. Nur hinsichtlich eines tatsächlich zugegangenen Bescheides lässt sich die Frage nach seiner Rechtzeitigkeit überhaupt aufwerfen. Dies wird durch die Gesetzesbegründung zu § 150[3] und die dort bekundete Anlehnung an das Vorbild des nunmehrigen § 270 Abs. 3 ZPO bestätigt.

Die Auslegung des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO durch die neuere Rechtsprechung des BFH läuft darauf hinaus, einem nicht bekannt gegebenen Bescheid - also einem Nichtakt -, von dem der vorgesehene Empfänger keine Kenntnis erhalten hat, für einen Teilbereich, nämlich den der Fristwahrung bzw. Fristunterbrechung, Rechtswirksamkeit beizumessen. Damit wird der Regelungsbereich der "Festsetzungsverjährung" verlassen und in den über die Bekanntgabe und Wirksamkeit von Verwaltungsakten übergegriffen und zugleich die Legaldefinition des Steuerbescheids in § 155 Abs. 1 Satz 2 AO negiert.

Die Vorlagefrage ist für den Streitfall entscheidungserheblich. Wird sie bejaht, ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Wird sie hingegen verneint, hat die Revision Erfolg. Die Vorlage ist daher gemäß § 11 Abs. 2 und 3 FGO geboten. Mit der von ihm beabsichtigten Entscheidung weicht der Senat von den genannten Urteilen des III., IV., V und VIII. Senats ab. Diese Senate haben sämtlich auf Anfrage des Senats der Abweichung nicht zugestimmt.

 

Link zur Entscheidung

BFH-Beschluss vom 6.6.2001 – II R 47/98

Anmerkung

Die Auffassung des vorlegenden Senats entspricht der ganz überwiegenden Meinung in der Literatur[4]. Ihr ist m.E. zuzustimmen. Die Gegenauffassung beruft sich vor allem auf das Argument, dass § 270 Abs. 3 ZPO bzw. dessen Vorläufer[5] Vorbild für die hier zu beurteilende Regelung des § 169 Abs. 1 Satz 3 AO gewesen ...

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