Leitsatz

Die Festsetzungsfrist ist nicht gemäß § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 gewahrt, wenn der Steuerbescheid, der vor Ablauf der Festsetzungsfrist den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat, dem Empfänger nicht zugeht.

 

Sachverhalt

Das Finanzamt erließ gegen A am 27.4.1989 einen am selben Tage verschickten Einheitswertbescheid auf den 1.1.1987, mit dem es u. a. die Grundstücksart Einfamilienhaus feststellte. Im Jahr 1994 gab A an, er habe den Bescheid nicht erhalten. Das Finanzamt übersandte ihm daraufhin am 21.12.1994 einen weiteren, inhaltsgleichen Bescheid. Hiergegen wendet sich A mit dem Hinweis, der Bescheid sei ihm erst nach Ablauf der Feststellungsfrist bekannt gegeben worden.

 

Entscheidung

Der Große Senat ist der Auffassung des A gefolgt. Nach § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO ist die Frist gewahrt, wenn vor Ablauf der Festsetzungsfrist "der Steuerbescheid den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat". "Steuerbescheid" i. S. dieser Vorschrift ist der nach § 122 Abs. 1 AO bekannt gegebene Verwaltungsakt[1]. Dieser wird gemäß § 124 Abs. 1 Satz 1 AO in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er bekannt gegeben wird. Vor der Bekanntgabe liegt noch kein Steuerbescheid vor, sondern ein bloßes Internum. Die fehlende oder fehlerhafte Bekanntgabe hat zur Folge, dass der Verwaltungsakt gegenüber dem Betroffenen nicht existiert (Nichtakt).

Nur der durch Bekanntgabe wirksam gewordene Steuerbescheid kann die Festsetzungsfrist dadurch wahren, dass er vor deren Ablauf zur Post gegeben wird. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass allein die Absendung eines Schriftstücks vor Ablauf der Festsetzungsfrist zur Fristwahrung ausreichen soll, sofern dem Steuerpflichtigen später ein Schriftstück gleichen Inhalts übermittelt wird. Schlägt der Bekanntgabeversuch fehl und wird der Bescheid später – nach Ablauf der Festsetzungsfrist – mit Erfolg bekannt gegeben, wird erst mit dieser Bekanntgabe ein Steuerbescheid wirksam. Dieser Steuerbescheid hat aber nicht – wie in § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO vorausgesetzt – den Bereich der zuständigen Finanzbehörde vor Ablauf der Festsetzungsfrist, sondern erst nach deren Ablauf verlassen.

 

Praxishinweis

§ 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO soll ersichtlich Fälle erfassen, in denen der Ablauf der Festsetzungsfrist droht. Die Vorschrift kann und soll jedoch nicht verhindern, dass sich der Steuerpflichtige durch Bestreiten des Zugangs nach Ablauf der Festsetzungsfrist der Steuerzahlung entzieht. In Fällen, in denen der Ablauf der Festsetzungsfrist und damit auch ein solcher Einwand droht, hat die Finanzbehörde die Möglichkeit, den Steuerbescheid förmlich nach § 122 Abs. 5 Satz 1 AO zuzustellen. Die Finanzverwaltung wird hierauf zunächst verstärkt zugreifen und möglicherweise auch versuchen, eine Änderung des Gesetzes zu erreichen.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Beschluss vom 25.11.2002, GrS 2/01

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