Leitsatz
- Schwerwiegende Fehler des FG bei der Anwendung und Auslegung revisiblen Rechts ermöglichen die Zulassung der Revision. Ein solcher Fehler liegt jedenfalls dann vor, wenn die Entscheidung des FG als objektiv willkürlich oder unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vertretbar erscheint.
- Liegt ein derartiger Fehler vor und wird er mit einer Nichtzulassungsbeschwerde ordnungsgemäß gerügt, ist die Revision zuzulassen. Eine Aufhebung der angefochtenen Entscheidung im Beschwerdeverfahren kommt anders als bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (Verfahrensmangel) nicht in Betracht.
Sachverhalt
Das Finanzamt schätzte den Gewinn eines Taxiunternehmens mit einem Umsatz von 110000 DM auf der Basis von 80000 km Wegstrecke auf 94000 DM, obwohl der Unternehmer aufgrund seiner Tätigkeit als Geschäftsführer für ein anderes Unternehmen nur eingeschränkt für das Taxiunternehmen gearbeitet hatte. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg; der BFH hat die Revision auf Beschwerde des Unternehmers zugelassen.
Entscheidung
Nach Auffassung des BFH hat der Taxiunternehmer zu Recht gerügt, das FG-Urteil weise schwerwiegende, mit der rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbare Rechtsfehler auf, die eine Entscheidung des BFH erforderten. Mit der Neufassung der Revisionszulassungsgründe durch das 2. FGOÄndG vom 19.12.2000 hat der Gesetzgeber ausweislich der Gesetzesmaterialien beabsichtigt, in die Revision auch alle Tatbestände einzubeziehen, "in denen über den Einzelfall hinaus ein allgemeines Interesse an einer korrigierenden Entscheidung des Revisionsgerichts besteht". Weiter heißt es in der Gesetzesbegründung: "Fehler bei der Auslegung revisiblen Rechts können über den Einzelfall hinaus auch dann allgemeine Interessen nachhaltig berühren, wenn sie z.B. von erheblichem Gewicht und geeignet sind, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu beschädigen. In diesen Fällen kann es geboten sein, der Rechtspraxis auch dann eine höchstrichterliche Orientierungshilfe zu geben, wenn die engen Zulassungsgründe des bisherigen Rechts nicht vorliegen." Obwohl dieses Anliegen in der Fassung des Wortlauts von § 115 Abs. 2 FGO nicht klar zum Ausdruck kommt, geht der BFH davon aus, dass besonders schwerwiegende Fehler des FG bei der Auslegung revisiblen Rechts die Zulassung der Revision ermöglichen, insbesondere wenn die Entscheidung des FG objektiv willkürlich erscheint oder auf sachfremden Erwägungen beruht und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist. Diese Voraussetzung ist nach Auffassung des BFH gegeben, wenn – wie im Streitfall – eine weit außerhalb der Wahrscheinlichkeit liegende Besteuerungsgrundlage vom Finanzamt geschätzt wird (Abweichung von Richtsätzen um über 300 %; Gewinn von 94 % des Umsatzes) und das FG diese Schätzung im Rahmen seiner eigenen Schätzungsbefugnis unverändert übernimmt, weil es sie für "in sich schlüssig, wirtschaftlich vernünftig und möglich" hält.
Praxishinweis
- Die Frage, ob für die Geltendmachung eines schweren offenkundigen Fehlers an Nr. 1 oder Nr. 2 des § 115 Abs. 2 FGO anzuknüpfen ist, ist nach Auffassung des BFH im Ergebnis ohne Bedeutung.
- Eine Aufhebung und Zurückverweisung nach § 116 Abs. 6 FGO kommt in Fällen offenkundiger materiell-rechtlicher Fehler im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nicht in Betracht, weil diese Möglichkeit nur auf Verfahrensfehler beschränkt ist und eine Rechtsschutzlücke als Voraussetzung einer analogen Anwendung ersichtlich nicht gegeben ist.
- Verlässt eine Schätzung den durch die Umstände des Einzelfalls gezogenen Schätzungsrahmen, ist sie rechtswidrig und kann ausnahmsweise sogar die Nichtigkeit des auf ihr beruhenden Verwaltungsakts zur Folge haben, wenn sich das Finanzamt nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat.
Link zur Entscheidung
BFH-Beschluss vom 13.10.2003, IV B 85/02