Dipl.-Ing. Cornelia von Quistorp
2.1 Bewusstsein schaffen
Funktionaler Analphabetismus tritt häufig auf!
Betriebliche Praktiker sollten sich klar machen, dass mit einer branchenabhängig unterschiedlichen Häufigkeit funktionale Analphabeten unter den Beschäftigten sind. In gewerblichen Bereichen ist schon aus statistischen Gründen davon auszugehen, dass jeder nicht ganz kleine Betrieb betroffen ist. Deshalb ist es in der betrieblichen Sicherheitsarbeit wichtig, bei allen die Sicherheit der Beschäftigten betreffenden Handlungsschritten zu berücksichtigen, dass keine schriftsprachlichen Hürden aufgebaut werden.
Aufgrund der Tatsache, dass Menschen mit nicht ausreichendem Lese- und Schreibvermögen gezielt sprachferne Berufs- und Tätigkeitsfelder aufsuchen, sind die Quoten funktionaler Analphabeten in bestimmten Branchen/Berufen besonders hoch. Bei Bau- und Produktionshelfern wird teilweise von bis zu 50 % ausgegangen, bei Hilfstätigkeiten in der Gastronomie, im Reinigungsdienst und im Transportgewerbe von bis zu 25 %.
Auch wenn Betroffene durchaus unterschiedlich mit ihrer schriftsprachlichen Schwäche umgehen, ist davon auszugehen, dass nur die wenigsten offen darauf hinweisen, wenn sie schriftliche Informationen schlecht oder gar nicht entschlüsseln können. Vielmehr sind sie z. T. über Jahre daran gewöhnt, aus bruchstückhaften Informationen und dem Verhalten der Kollegen Inhalte schriftlicher Hinweise zu erschließen, und haben wirksame Ausweichmechanismen entwickelt – sie besorgen sich z. B. Informationen durch Nachfragen oder nehmen Unterlagen zum Vorlesenlassen mit nach Hause. Daher ist damit zu rechnen, dass das Problem Analphabetismus im betrieblichen Alltag u. U. lange nicht auffällt.
Offenheit hilft weiter
Befragungen zeigen, dass trotz der häufig großen Zurückhaltung der Betroffenen, ihre Defizite offen anzusprechen, Kollegen und Vorgesetzte oft wissen oder zumindest deutlich vermuten, bei wem Probleme mit der Schriftsprache bestehen. Oft führt das dazu, dass ohne weitere Umstände von Seiten des Betriebes und der Kollegen für die Betroffenen Bedingungen geschaffen werden, in denen diese Einschränkungen möglichst wenig spürbar sind. Im Interesse sowohl des Betriebes als auch der Betroffenen ist es aber sinnvoll, den Sachverhalt auch offen anzusprechen.
Funktionaler Analphabetismus wird im betrieblichen Umfeld i. d. R. als nicht so stigmatisierend eingestuft, dass der offene Umgang damit den Betroffenen nicht zuzumuten wäre. Vielmehr erleichtert das aber einen sauberen Informationsfluss im Betrieb, der Missverständnissen vorbeugt. Langfristig kann so ggf. auch eine unverkrampfte Aufgangslage geschaffen werden, die Betroffenen einen Einstieg in die späte Alphabetisierung möglich macht.
2.2 Schriftsprachliche Barrieren überwinden
2.2.1 Sicherheitshinweise/Betriebsanweisungen/Flucht- und Rettungspläne
Sicherheits- und Gesundheitsschutzkennzeichnung muss grundsätzlich der ASR A1.3 entsprechen. Wesentliches Kriterium bei dieser Entwicklung war und ist es gerade, dass die Informationen nicht an eine bestimmte (Schrift-)Sprache gekoppelt sind. Daher ist davon auszugehen, dass bei einer vernünftigen Unterweisungspraxis jeder Beschäftigte, unabhängig von der schriftsprachlichen Kompetenz, Sicherheits- und Gesundheitsschutzkennzeichnung richtig erkennen und deuten kann.
Sicherheitskennzeichnung nicht improvisieren
Selbstgeschriebene Hinweisschilder sollten bei sicherheitsrelevanten Risiken tabu sein. Wenn es wirklich wichtig ist, muss möglichst unmissverständliche, genormte Kennzeichnung eingesetzt werden.
Betriebsanweisungen für Gefahrstoffe, Maschinen, Anlagen und Tätigkeiten sind in hohem Maße schriftbasiert. Zwar sind die Textabschnitte i. d. R. nicht lang, aber z. T. wegen der zugrunde liegenden Standards z. B. in der Gefahrstoffkennzeichnung nicht so allgemeinverständlich, wie es vom ursprünglichen Sinn einer Betriebsanweisung her wünschenswert wäre. Viele Menschen mit schwachen schriftsprachlichen Fähigkeiten sind sicher außerstande, aushängende Betriebsanweisungen zu lesen. Entsprechend wichtig ist es, auf den Inhalt in den persönlichen Unterweisungen gründlich einzugehen. Auch Flucht- und Rettungspläne, die viele schriftliche Einträge haben, sollten unbedingt praktisch erläutert werden.
2.2.2 Unterweisungen
DGUV-R 100-001 präzisiert die allgemeine Forderung, dass Unterweisungen in aller Regel mündlich und persönlich zu erfolgen haben. Ein reines Selbststudium aus schriftlichen Unterlagen ist grundsätzlich nicht vorgesehen und elektronische Unterweisungen sollen nur als Hilfsmittel eingesetzt werden und nur dann, wenn sichergestellt ist, "dass … eine Verständnisprüfung stattfindet und ein Gespräch zwischen Versicherten und Unterweisenden jederzeit möglich ist." (Abschn. 2.3 DGUV-R 100-001).
Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass ein bloßes Aushändigen von Vorschriften und Regeln nicht ausreichend ist (Abschn. 2.3.2 DGUV-R 100-001). Vielmehr ist der Unternehmer verpflichtet, sich zu vergewissern, dass die Versicherten die Inhalte verstanden haben, z. B.
- durch das Stellen von Verständnisfragen,
- durch Vorführenlassen des Handlungsablaufs durch den Mitarbeiter,
- durch Beobachtung der Ar...