Dipl.-Ing. Cornelia von Quistorp
Zusammenfassung
Trotz 10-jähriger Schulpflicht und einem vergleichsweise hohen Ausbildungsstand unter Erwerbstätigen, gibt es auch in Deutschland einen erheblichen Anteil von Menschen, die nicht oder nicht ausreichend lesen und/oder schreiben können. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 14 % der Bevölkerung nicht in der Lage sind, mit Schriftsprache so umzugehen, wie es in ihrem sozialen Umfeld als selbstverständlich angesehen wird. Praktisch bedeutet das z. B., dass selbst kurze Texte oder unbekannte Wörter nicht sinnerfassend gelesen werden können. Weil die Betroffenen oft über Jahre hinweg geschickte Vermeidungsstrategien entwickelt haben, werden ihre Defizite beim Lesen und Schreiben oft nicht augenfällig. Für die betriebliche Sicherheitsarbeit bedeutet das, dass schlicht nicht davon ausgegangen werden darf, dass schriftliche Informationen von allen aufgenommen werden können.
Der Arbeitgeber ist dafür verantwortlich, dass sicherheitsrelevante Informationen allen Beschäftigten in verständlicher Weise vermittelt werden (§ 4 Abs. 2 DGUV-V 1).
Bei Unterweisungen muss allgemein durch persönliche Ansprache und Verständniskontrolle sichergestellt werden, dass Unterweisungsinhalte verstanden wurden. Bei korrekter Durchführung ist damit sichergestellt, dass Unterweisungsinhalte auch die Mitarbeiter tatsächlich erreichen, die die Schriftsprache nicht sicher beherrschen (DGUV-R 100-001). Im Rahmen von Unterweisungen müssen für diese Beschäftigten auch die Inhalte verstärkt vermittelt werden, die auf schriftsprachliche Dokumente zurückgreifen, wie z. B. den Flucht- und Rettungsplan, die Brandschutzordnung oder Betriebsanweisungen für den Umgang mit Gefahrstoffen, Maschinen und Anlagen.
Die genormte Sicherheits- und Gesundheitsschutzkennzeichnung nach ASR A1.3 verzichtet – abgesehen vom Flucht- und Rettungsplan – völlig auf schriftsprachliche Informationen, eben damit sicherheitsrelevante Informationen möglichst unabhängig vom Sprachvermögen aufgenommen werden können.
1 Fakten zum Analphabetismus in Deutschland
Von primärem Analphabetismus spricht man, wenn Betroffene nie oder nur sehr kurz die Gelegenheit hatten, Lesen und Schreiben zu lernen. Durch die hohe Priorität der Schulpflicht trifft das in Deutschland allerdings nur auf sehr wenige Menschen zu, die i. d. R. ohne ausreichende Schulbildung zugewandert sind und weder die deutsche noch ihre Muttersprache in der Schriftform beherrschen. Verbreitet ist demgegenüber der sog. sekundäre Analphabetismus. Davon Betroffene haben in der Schule nur unzureichend lesen und schreiben gelernt und/oder die geringen Kenntnisse nach Schule bzw. Berufsschule weitgehend wieder verloren. In welchem Umfang jemand in der Lage sein muss, mit der Schriftsprache umzugehen, ist dabei sehr stark abhängig von seinem Lebensumfeld. Deshalb wird häufig von funktionalem Analphabetismus gesprochen, der vorliegt, wenn jemand nicht in der Lage ist, die Schriftsprache so zu nutzen, wie es in seinem Lebens- und Arbeitsumfeld erforderlich ist bzw. erwartet wird.
Nach einer im Jahr 2011 durchgeführten Studie der Universität Hamburg wird davon ausgegangen, dass 7,5 Mio. Menschen (14 % der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter) in Deutschland mindestens funktionale Analphabeten sind und nicht gut genug lesen und schreiben können, um ihren Alltag normal zu bestreiten. Zwar kann die Mehrzahl (ca. 5 Mio.) durchaus einzelne kurze Sätze lesen, aber Texte im Zusammenhang nicht oder nur viel zu mühsam erschließen. 2 Mio. Menschen können nur einzelne Wörter erkennen, etwa 300.000 gar nicht mit Buchstaben umgehen.
Die Ursachen dafür wurden lange vorwiegend im sozialen Umfeld der Betroffenen gesehen. Als besonderes Risiko gilt, wenn in der Herkunftsfamilie die Schriftsprache keine Rolle spielt, also wenig bis gar nicht gelesen und geschrieben wird. So werden für die Kinder die Hürden zu hoch, um in der Grundschule in der üblichen Art und Weise die Schriftsprache zu lernen. Tatsächlich sind bildungsferne Schichten und auch Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, überproportional unter den funktionalen Analphabeten in Deutschland vertreten. Allerdings zeigen neuere Studien, dass auch angeborene Faktoren, vergleichbar der bekannten Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), eine erhebliche Rolle spielen. Möglicherweise ist es so, dass funktionaler Analphabetismus gerade dann mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auftritt, wenn Menschen mit einer solchen angeborenen Schwäche durch ihr Umfeld im Kindesalter nicht ausreichend beim Lesen- und Schreibenlernen unterstützt werden können.
Auf keinen Fall ist davon auszugehen, dass mangelnde Kompetenz im Umgang mit der Schriftsprache automatisch mit geringen kognitiven oder insgesamt lebenspraktischen Fähigkeiten einhergeht. Ca. 80 % der funktionalen Analphabeten haben einen (manchmal auch hochwertigen) Schulabschluss, immerhin die Hälfte ist erwerbstätig.
Der fehlende Zugang zur Schriftsprache hat unstrittig gravierende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Viele Lebens- und Arbeitsber...