Die am häufigsten verwendete Methodik zur Ermittlung psychischer Belastungen ist die schriftliche und anonyme Befragung der Beschäftigten mittels eines Fragebogens. Als Ergebnis einer solchen Befragung erhält man statistische Durchschnittswerte subjektiver Einschätzungen der erlebten Belastungen (z. B.: "Tragen Sie viel Verantwortung?"). Manche Fragebögen enthalten zusätzlich Fragen zur erlebten Beanspruchung ("Überfordert Sie das?"). Wird gar nicht nach der Beanspruchung gefragt, werden Hypothesen zur Bewertung der Belastungen benötigt, z. B. die Hypothese: viel Verantwortung ist positiv für den Menschen. Oder vielleicht auch die entgegengesetzte Hypothese: viel Verantwortung verunsichert den Menschen und überfordert ihn.
Bei allen Vorteilen einer solchen Mitarbeiterbefragung, v. a. der praktikablen Durchführung auch durch Nicht-Psychologen, sollten folgende Einschränkungen dieser Methodik beachtet werden:
- Es wird ausschließlich das subjektive Erleben und die subjektive Bewertung des Erlebten durch die Beschäftigten ermittelt.
- Man erhält Hinweise auf Ressourcen (z. B. die Ausstattung mit Arbeitsmitteln wird sehr positiv bewertet) sowie auf grundsätzliche Belastungen (z. B. im Arbeitsbereich XY bemängeln die Beschäftigten ihre Ausstattung mit Arbeitsmitteln). Sie kennen dann aber noch nicht die nötigen Details, um geeignete Maßnahmen zur Verbesserung zu identifizieren. Das folgende Beispiel soll dies verdeutlichen.
In jedem Unternehmen finden sich ganz spezifische Belastungen
Die Servicemonteure eines Unternehmens fahren tagsüber mit ihrem Auto von einem Kunden zum nächsten. Sie führen bei ihren Kunden Wartungs- und Reparaturtätigkeiten aus. Sie haben Abstimmungsbedarf mit ihren Kollegen ("Du warst doch neulich bei Kunde X. Sag mir mal …") und ihren Kunden ("Ich bin auf dem Weg, komme 10 Minuten später, wo genau ist der Zugang zu …?"). Sie besitzen aber keine Freisprecheinrichtung in ihrem Auto. Die offizielle "Ansage" lautet: Beim Autofahren soll nicht telefoniert werden. Nun ist es aber andererseits naheliegend und sehr praktisch, gerade die Autofahrten zum Telefonieren zu nutzen, zumal alle Mitarbeiter unter erheblichem Zeitdruck stehen, wenn sie ihr vorgesehenes Tagespensum schaffen wollen. Was ist die Folge? Die Kollegen telefonieren während der Fahrt mit ihrem privatem Handy. Sie haben dabei natürlich ein schlechtes Gewissen und fürchten negative Konsequenzen, wenn das bekannt wird. Und sie gehen beim Fahren ein unnötiges Risiko ein.
Wir haben hier also eine psychische Fehlbelastung, die dringend abgestellt werden sollte und auch relativ einfach abzustellen ist: durch Freisprecheinrichtungen. Solche ganz speziellen Belastungssituationen gibt es in allen Unternehmen und allen Arbeitsbereichen und sie sind durch Fragebögen nicht zu entdecken. Fragebögen sind immer standardisiert und bieten nur eine begrenzte Anzahl relativ allgemeiner Fragen. Im Falle einer Mitarbeiterbefragung per Fragebogen hätten die Monteure vielleicht einen kritischen Wert angekreuzt bei der Frage nach geeigneten Arbeitsmitteln. Vielleicht wären sie aber auch durch den Fragebogen gar nicht an diese Problematik erinnert worden, weil die Fragen eben allgemein formuliert sind. So oder so wären die betrieblich Verantwortlichen nicht auf dieses Thema aufmerksam geworden.
Interviews besitzen gegenüber Fragebögen den großen Vorteil ihrer Offenheit für alle erdenklichen speziellen und besonderen Arbeits- und Belastungssituationen. Es sollte natürlich einen betrieblich abgestimmten Interviewleitfaden geben, aber die dort aufgeführten Fragen werden eben nicht einfach mit "Ja", "Nein" oder Skalenwerten beantwortet. Sondern zu jeder Frage wird ein kleines, individuelles Gespräch geführt. Z. B. kann eine Frage lauten: "Kommt es vor, dass Sie während Ihrer Arbeit sehr unter Zeitdruck geraten?". Bejaht der interviewte Mitarbeiter diese Frage, wird der Interviewer in mehreren Schritten nachhaken: "Wann genau passiert dies?", "Wodurch bedingt?", "Wie häufig?", "Wie reagieren Sie in diesen Situationen?", "Was ist für Sie hilfreich und entlastend?", "An wen können sich wenden?", "Ist dies für Sie eher eine motivierende Abwechslung und Herausforderung oder eher eine Überforderung?" usw.
Auf diese Weise werden alle wichtigen Details der Arbeitssituation ermittelt, die bei Mitarbeiterbefragungen meist in anschließend durchgeführten Workshops diskutiert werden. Zusätzlich erhält man einen neutralen Blick auf die Situation. Das Erleben der Beschäftigten wird natürlich ermittelt und ernst genommen, aber eben auch hinterfragt.