Dipl.-Psych. Julia Scharnhorst, Manfred Nedler
Die am häufigsten verwendete Methodik zur Ermittlung psychischer Belastungen ist die schriftliche und anonyme Befragung der Beschäftigten mittels eines Fragebogens. Das Ergebnis einer solchen Befragung sind statistische Durchschnittswerte subjektiver Einschätzungen der erlebten Belastungen (z. B.: "Tragen Sie viel Verantwortung?"). Einige Fragebögen enthalten zusätzlich Fragen zur erlebten Beanspruchung ("Überfordert Sie das?"). Wird gar nicht nach der Beanspruchung gefragt, werden Hypothesen zur Bewertung der Belastungen benötigt, z. B. die Hypothese: viel Verantwortung wirkt sich positiv auf den Menschen aus. Oder vielleicht auch die entgegengesetzte Hypothese: viel Verantwortung verunsichert den Menschen und überfordert ihn.
Bei allen Vorteilen einer Befragung der Mitarbeitenden, v. a. der praktikablen Durchführung auch durch Nicht-Psychologen, sollten folgende Einschränkungen dieser Methodik beachtet werden:
- Es wird ausschließlich das subjektive Erleben und die subjektive Bewertung des Erlebten durch die Beschäftigten ermittelt.
- Die Befragungsergebnisse geben Hinweise auf Ressourcen (z. B. die Ausstattung mit Arbeitsmitteln wird sehr positiv bewertet) sowie auf grundsätzliche Belastungen (z. B. im Arbeitsbereich XY bemängeln die Beschäftigten ihre Ausstattung mit Arbeitsmitteln). Um geeignete Maßnahmen zur Verbesserung zu definieren, fehlen jedoch die nötigen Details. Das folgende Beispiel soll dies verdeutlichen.
In jedem Unternehmen finden sich ganz spezifische Belastungen
Die Servicemonteure eines Unternehmens fahren tagsüber mit ihrem Auto von einem Kunden zum nächsten. Sie führen bei ihren Kunden Wartungs- und Reparaturtätigkeiten aus. Sie haben Abstimmungsbedarf mit ihren Kollegen ("Du warst doch neulich bei Kunde X. Sag mir mal …") und ihren Kunden ("Ich bin auf dem Weg, komme 10 Minuten später, wo genau ist der Zugang zu …?"). Sie besitzen aber keine Freisprecheinrichtung in ihrem Auto. Die offizielle "Ansage" lautet: Beim Autofahren soll nicht telefoniert werden. Nun ist es aber andererseits naheliegend und sehr praktisch, gerade die Autofahrten zum Telefonieren zu nutzen, zumal alle Mitarbeitenden unter erheblichem Zeitdruck stehen, wenn sie ihr vorgesehenes Tagespensum schaffen wollen. Was ist die Folge? Die Kollegen telefonieren während der Fahrt mit ihrem privaten Handy. Sie haben dabei natürlich ein schlechtes Gewissen und fürchten negative Konsequenzen, wenn das bekannt wird. Und sie gehen beim Fahren ein unnötiges Risiko ein.
Die dabei auftretende psychische Belastung ist relativ einfach abzustellen, und zwar durch Freisprecheinrichtungen. Solche ganz speziellen Belastungssituationen gibt es in allen Unternehmen und allen Arbeitsbereichen und sie sind durch Fragebögen nicht zu entdecken. Fragebögen sind immer standardisiert und bieten nur eine begrenzte Anzahl allgemeiner Fragen. Im Falle einer Mitarbeiterbefragung per Fragebogen hätten die Monteure vielleicht einen kritischen Wert angekreuzt bei der Frage nach geeigneten Arbeitsmitteln. Vielleicht wären sie aber auch durch den Fragebogen gar nicht an diese Problematik erinnert worden, weil die Fragen eben allgemein formuliert sind. So oder so wären die betrieblich Verantwortlichen nicht auf dieses Thema aufmerksam geworden.
Im Vergleich zu Fragebögen bieten Interviews den großen Vorteil, dass sie für alle möglichen speziellen und besonderen Arbeits- und Belastungssituationen offen sind. Natürlich sollte ein betrieblich abgestimmter Interviewleitfaden vorhanden sein, jedoch werden die dort aufgelisteten Fragen nicht einfach mit Ja, Nein oder Skalenwerten beantwortet. Stattdessen findet zu jeder Frage ein individuelles Gespräch statt. Z. B. könnte eine Frage lauten: Inwiefern werden Sie bei Ihrer Arbeit häufig unter Zeitdruck gesetzt? Wenn der befragte Mitarbeitende diese Frage bejaht, wird der Interviewende in mehreren Schritten weiter nachhaken: Wann genau tritt dies auf? Was sind die Gründe dafür? Wie oft? Wie reagieren Sie in diesen Situationen? Was hilft Ihnen dabei und entlastet Sie? An wen können Sie sich wenden? Empfinden Sie dies eher als motivierende Abwechslung und Herausforderung oder als Überforderung? Und so weiter.
Auf diese Weise werden alle wichtigen Details der Arbeitssituation ermittelt, die bei Mitarbeiterbefragungen meist in anschließend durchgeführten Workshops diskutiert werden. Zusätzlich erhält man einen neutralen Blick auf die Situation. Das Erleben der Beschäftigten wird natürlich ermittelt und ernst genommen, aber eben auch hinterfragt.