Dipl.-Psych. Julia Scharnhorst, Manfred Nedler
4.1 Aufwand und Nutzen von Interviews in der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung
Der große Vorteil von Interviews mit Beschäftigten liegt in der neutralen, fachkundigen und sehr konkreten Darstellung der Belastungen, der Beanspruchungen, des Handlungsbedarfs und möglicher Lösungsansätze. Die betrieblichen Entscheider profitieren von dieser aussagekräftigen Darstellung und vermeiden zeitaufwendige Diskussionen, vielleicht sogar kostspielige Streitfälle, z. B. in einer Einigungsstelle. Der Aufwand hängt ab von der Größe und der Struktur des betrachteten Arbeitsbereichs. Der Pro-Kopf-Aufwand sinkt auf jeden Fall mit der Größe dieser Organisationseinheit.
Ob der Aufwand größer ist als beim Einsatz eines Fragebogens, hängt von der verwendeten Datenerhebung und -auswertung ab. Bei Mitarbeiterbefragungen gibt es große Unterschiede hinsichtlich der Datenerfassung. Werden handschriftlich ausgefüllte Bögen elektronisch erfasst, ist der Aufwand höher als bei Online-Lösungen. Für Letztere sind jedoch Lizenzgebühren fällig. Bei der Auswertung kommt es darauf an, ob lediglich Mittelwerte und Antwortverteilungen dargestellt werden, ob komplexe statistische Analysen durchgeführt werden. Da bei diesen Mitarbeiterbefragungen aber immer zusätzliche Schritte notwendig sind, um die Details der Arbeits- und Belastungssituation zu identifizieren (meistens in Form von Workshops), kann das Interviewverfahren im Vergleich eine kostengünstige Methodik sein.
4.2 Varianten des Verfahrens
Es ist auch möglich, die Untersuchung der psychischen Belastungen und Beanspruchungen mit einer Untersuchung der physischen Belastungen und Beanspruchungen zu verbinden. In diesen Fällen werden die Arbeitsplätze und die typischen Arbeitshaltungen und Bewegungsabläufe von einem Physiotherapeuten mit Zusatzausbildung in Arbeitsplatzergonomie begutachtet und bewertet. Die Erkenntnisse und Bewertungen werden unter der Überschrift "Körperliche Belastungen" als zusätzlicher Punkt in den Ergebnisbericht übernommen. Physiotherapeuten besitzen einen äußerst genauen Blick für potenzielle gesundheitliche Folgen physischer Fehlbelastungen und können wertvolle Hinweise für die Gestaltung gesunder Arbeitsplätze und für ein gesundheitsgerechtes Arbeitsverhalten beitragen.
Die Nutzung von Software steht in sehr vielen Arbeitsbereichen im Mittelpunkt der täglichen Arbeit. In den Interviews wird daher auch nach der Qualität der Programme, immer gemessen an den zu erledigenden Aufgaben, gefragt. Um sich ein genaues Urteil in dieser Frage bilden zu können, benötigt der Untersuchende jedoch die Möglichkeit, die Programme selber prüfen zu können. Eine sehr effektive und effiziente Vorgehensweise sieht folgendermaßen aus:
Ein kleines Team geübter Anwender aus dem betrachteten Arbeitsbereich sowie ein Experte für die zu untersuchende Software treffen sich mit dem Untersuchenden für ca. 1 bis 2 Stunden. Ein Zugang zum System steht zur Verfügung. Alle in den Interviews kritisch genannten Aspekte der Software werden nun gemeinsam im System simuliert und diskutiert. Der Experte hilft dabei, Mängel der Software von Fehlern in der Anwendung zu unterscheiden. Der Untersuchende kann sich auf der Grundlage seiner Kenntnisse der Arbeitsaufgaben und Rahmenbedingungen, z. B. Zeitdruck bei bestimmten Vorgängen, auf diese Weise ein gutes Urteil darüber bilden, wie belastend bestimmte Merkmale der Software für die Nutzer sind.
4.3 Erfolg und Wirksamkeit
Für den ersten Einsatz des Interviewverfahrens empfiehlt sich die Verabredung eines Pilotprojektes in einem Arbeitsbereich von 30 bis 100 Beschäftigten. Nur auf diese Weise können sich die betrieblichen Entscheider ein genaues Urteil über die Qualität dieser Vorgehensweise bilden sowie etwaige "Stolpersteine" identifizieren. Anhand eines ersten Ergebnisses lässt sich dann auch abschätzen, wie viel Zeit die anschließende Beratung sowie die Planung und Umsetzung von Maßnahmen erfordern.
Für die Akzeptanz des Verfahrens ist durchgängig auf Transparenz für alle Beteiligten und Beschäftigten zu achten. Ergebnisse sind zeitnah zu präsentieren. Erste Maßnahmen sollten schnell erfolgen. Dafür finden sich immer geeignete Ansatzpunkte.
Die Wirksamkeitskontrolle ist alles andere als trivial. Unternehmen sind komplexe soziale Systeme und es ist niemals mit letzter Sicherheit möglich, bestimmte Veränderungen auf spezifische Maßnahmen zurückzuführen. Im Rahmen der Entwicklung von Maßnahmen kann jedoch eine Prüfroutine vereinbart werden, welche mit möglichst großer Plausibilität Hinweise auf den Erfolg oder Misserfolg liefert. Wie beim Interviewverfahren ist jeweils zu prüfen, welche objektiven Daten eine Aussagekraft besitzen und wie sich verschiedene Ansichten und Meinungen zu einem stimmigen Gesamtbild fügen.
Wirksamkeitskontrolle vorgeschrieben
Im Arbeitsschutzgesetz wird ausdrücklich vorgeschrieben, dass die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen zu überprüfen ist. Falls sie nicht den erwünschten Effekt erzielen, müssen sie angepasst werden. Daher sollten schon vorab Zielgrößen festgelegt werden, anhand derer sich die Wirksamkeit überprüfen und messen lässt. Das kann z. B. durch die Wiederholu...