Tomy Sobetzko, Dr. Rupprecht Maushart
2.1 Woher stammt unser Wissen?
Strahlenwirkungen, Strahlenschäden und daraus folgend das Strahlenrisiko werden von der Wissenschaft auf 3 Ebenen untersucht: in der Zellbiologie, im Tierversuch und unmittelbar am Menschen. Bei Tier und Mensch unterscheidet man wieder zwischen Effekten am Individuum und statistisch auszuwertenden Erscheinungen in größeren Gruppen (Epidemiologie) (Abb. 2).
Abb. 2: Ermittlung des Strahlenrisikos
Trotz vielfältiger Untersuchungen muss jedoch gesagt werden, dass unser heutiges Wissen über die Strahlenwirkung immer noch ein rein beschreibendes ist. Den Wirkungsmechanismus der Strahlung mit der Zellsubstanz, der letztlich die Krebserzeugung – allein oder im Zusammentreffen mit anderen, nicht strahlenbedingten Einflüssen – auslöst, beginnen wir erst allmählich besser zu verstehen. Immerhin sind wir heute imstande, eine genetisch bedingte individuelle Krebsempfindlichkeit und ihre verhältnismäßig große Schwankungsbreite zelldiagnostisch zu erkennen. Welche Auswirkungen das in Zukunft für Strahlenbeschäftigte mit sich bringen könnte, wird diskutiert. Es steht zu erwarten, dass sich in den nächsten 5 bis 10 Jahren unser Wissen über Krebsentstehung und damit auch über die Wirkung kleiner Strahlendosen durch neue molekularbiologische Erkenntnisse wesentlich erweitern wird.
Ebenfalls problematisch ist heute noch das Erkennen von strahlengenetischen Effekten beim Menschen. Hier stammt unser Wissen zum Großteil aus Tierversuchen, deren Ergebnisse nicht immer ohne Weiteres auf den Menschen zu übertragen sind. Folglich müssen wir in dieser Situation derzeit immer noch auf die Extrapolation aus den erkennbaren Wirkungen großer Dosen als Hauptquelle für die Angaben über das Risiko im Niedrigdosisbereich zurückgreifen.
2.2 Extrapolation aus höheren Expositionen
Das Grundproblem bei der Erfassung und beim Erkennen latenter Strahlenschäden beim Menschen besteht darin, dass ihre Auswirkungen sich nicht von denen "konventioneller" Zellschädigungen unterscheiden. Ob eine Krebserkrankung durch strahlenbedingte oder spontane Mutation eines Chromosoms entstanden ist, hat keine Bedeutung für den weiteren Verlauf oder die Schwere der Erkrankung.
Ab einer bestimmten Höhe der Dosisexposition wird jedoch die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts so hoch, dass sie mit genügender Sicherheit als Folge der Exposition gewertet werden kann.
Daraus leiten wir dann, in einer linearen Extrapolation zu kleineren Dosen hin, die direkt nicht ermittelbaren Fallzahlen für geringe Dosen ab. Da man selbstverständlich Menschen nicht gezielt bestrahlen kann, sind wir als Ausgangsprobanden mit höheren Dosen auf solche Fälle angewiesen, bei denen eine Bestrahlung ungewollt erfolgt ist, wie z. B. bei Unfällen oder in der Medizin zu Therapiezwecken.
Hier liegen jedoch meist alles andere als ideale Studienbedingungen zugrunde. Bei den Unfällen ist es häufig schwer bis unmöglich, die genauen Dosiswerte für die Strahlenexposition zu bestimmen oder zu rekonstruieren. So etwa im Falle der Opfer von Tschernobyl. Die Therapiepatienten sind durch eben ihre Krankheit vorbelastet und stellen somit außerhalb der Norm liegende Extremfälle dar.
2.3 Epidemiologische Untersuchungen
Man versucht deshalb, die Erkenntnisse aus Extrapolationen von höheren zu niedrigeren Dosen zu bestätigen und zu ergänzen durch sog. epidemiologische Studien. Das sind Untersuchungen von größeren Bevölkerungsgruppen, die einer erhöhten Strahlenexposition ausgesetzt sind. Dazu gehören Bewohner von Gebieten mit größeren natürlichen Strahlenpegeln, aber auch beruflich strahlenexponierte Personen, etwa in der Kerntechnik.
In allen diesen Gruppen treten aber hohe Zahlen "konventioneller" Krebserkrankungen auf. Eine kleine Zunahme dieser Fallzahlen statistisch gesichert zu erkennen, setzt voraus, dass man eine Kontrollgruppe findet, bei der außer der Bestrahlung alle anderen Ausgangswerte und Lebensumstände gleich sind. Bei der Entstehung von Lungenkrebs spielt z. B. das Raucherverhalten eine entscheidende Rolle. Wenn also der Einfluss erhöhter Radon-Konzentrationen in der Atemluft untersucht werden soll, müssen Bezugspersonen gleicher Altersverteilung mit gleichem Zigarettenkonsum gefunden werden.
Die Gesamtbevölkerung kann sicher nicht als Referenzgruppe dienen. So ist die Krebshäufigkeit bei beruflich strahlenexponierten Personen zunächst einmal erheblich geringer als im Bevölkerungsdurchschnitt. Diese Erscheinung ist als "Healthy Worker Effect" bekannt und erschwert eine statistische Auswertung und Erkennung einer möglicherweise gesteigerten Krebshäufigkeit in dieser Gruppe erheblich.
Andererseits kann nach heutigem Stand der Erkenntnis nicht mehr ausgeschlossen werden, dass es diesen Healthy Worker Effect gar nicht gibt, sondern dass sich hier tatsächlich eine positive Wirkung kleiner Strahlendosen manifestiert.
Alle diese Umstände führen dazu, dass unser Wissen über die Wirkung kleinerer Strahlendosen eher von Indizien denn aus direkten Beweisen hergeleitet ist. Dennoch sind diese Indizien von der Strahlenschutz-Wissenschaftsgemeinde bisher als stark genug anerkannt, um ein tragfähige...