(1) Auch wenn die europäische Region seit 2002 PV-frei zertifiziert ist, besteht immer die Gefahr einer Wiedereinschleppung von WPV (Tadschikistan, 2011) [1,2] oder Impfstoffabgeleiteter PV (VDPV, (Tadschikistan und Ukraine 2021 [3] und Nachweis im Abwasser in London, 2022 [4]). In der WHO-Region Amerika, die bereits seit 1994 als poliofrei zertifiziert ist, kam es im Jahr 2022 nach einer Einschleppung von VDPV2 zu einem Polioausbruch (ein klinischer Poliofall und zahlreiche Nachweise von viralen RNA-Sequenzen im Abwasser) im Bundesstaat New York [5].
(2) Bei nicht ausreichendem Impfschutz der Bevölkerung kann es nach einer Einschleppung zur Weiterverbreitung des Erregers kommen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass biomedizinische Laboratorien, die Diagnostik, Forschung, Lehre, Impfstoff- und Desinfektionsmitteltestung durchführen, eine potenzielle Quelle zur Verbreitung von Polioviren darstellen können. Bisher verringert die weltweite Immunisierung mit inaktivierter oder oraler Poliovakzine die Gefährdung der Beschäftigten in Laboratorien und der Bevölkerung. Polioviren Typ 1 und 3 sind gemäß RL 2000/54/EG EU-weit rechtsverbindlich in die Risikogruppe 2 eingestuft, Polioviren Typ 2 hingegen in die Risikogruppe 3 (Änderung der Anhänge RL EU 2019/1833 vom 24.10.2019).
(3) Bevor Tätigkeiten mit Polioviren in Laboratorien aufgenommen werden, ist durch den Arbeitgeber immer eine Gefährdungsbeurteilung nach den Maßgaben der Biostoffverordnung (vgl. § 4) durchzuführen.
(4) Nach der Biostoffverordnung sind für gezielte und nicht gezielte Tätigkeiten mit Polioviren Typ 1 und 3, entsprechend der Einstufung in die Risikogruppe 2, die Schutzmaßnahmen der Schutzstufe 2 gemäß BioStoffV zu ergreifen. Dies gilt auch für Tätigkeiten im Rahmen der Diagnostik mit Poliovirus-Typ 2 infiziertem und /oder potenziell infektiösem Material, sofern die Tätigkeiten auf Poliovirus-Typ 2 ausgerichtet sind und regelmäßig durchgeführt werden.
(5) Da Polioviren Typ 2 der Risikogruppe 3 zugeordnet sind, müssen für gezielte Tätigkeiten nach der BioStoffV, wie beispielsweise die gezielte Vermehrung des Virus, die Schutzmaßnahmen der Schutzstufe 3 gemäß BioStoffV ergriffen werden. Darüber hinaus erfordert der Umgang mit Polioviren Typ 2 (WPV2, VDPV2, OPV2, PIM) sowie Polioviren Typ 3 (WPV3, VDPV3, PIM) mit Ausnahme von OPV3 die Einhaltung des GAP IV, welche teilweise über die Maßnahmen der Schutzstufe 3 gemäß Biostoffverordnung hinausgehen. Daher ist eine Zulassung als sogenannte polio essential facilitiy (PEF) seitens der WHO gefordert. Die Schutzmaßnahmen der Schutzstufen werden in der TRBA 100 "Schutzmaßnahmen für Tätigkeiten mit biologischen Arbeitsstoffen in Laboratorien" konkretisiert [6].