Nach den Erkenntnissen der Fehlerforschung in Bezug auf Fehlentscheidungen und Fehlhandlungen, die den Menschen als Individuum im System mit seinen limitierenden physiologischen und mentalen Faktoren untersuchte, wird nun der Blick nicht mehr nur auf eine falsche individuelle Handlung gerichtet, sondern es werden die Bedingungen auf allen Ebenen eines Systems betrachtet.
Der Fehlerforscher Reason hat sich dieser systemischen Sichtweise angeschlossen und sagt zu den Interdependenzen (gegenseitige Abhängigkeiten): In der Regel ist es nicht singuläre Ursache, die zu einem unerwünschten Ergebnis führt, sondern "Vorbedingungen" auf mehreren Systemebenen stehen in einer unheilvollen Wechselwirkung.
Reason stellt ein Modell zur Entstehung von Fehlern vor, welches von Fehlerketten ausgeht, bei denen viele Faktoren aufeinandertreffen und sich durch Barrieren fräsen wie ein Presslufthammer durch Gesteinsschichten. Er nennt sein Modell "Käsescheibenmodell", weil Fehler durch Löcher schlüpfen wie in einem Schweizer Käse. Dabei spricht er von "latenten Bedingungen" und "aktiven Fehlern", die aufeinandertreffen. Latente Bedingungen für die Entstehung von kritischen Situationen, Beinahe-Unfällen und Unfällen werden durch Organisationsentscheidungen getroffen. Dazu zählen die veranschlagte Zeit für die Verrichtung einer Aufgabe, bauliche Gegebenheiten, die zur Verfügung stehenden Arbeitsmittel, die Dienstplangestaltung, das zur Verfügung stehende Personal, die Qualifikation der Mitarbeitenden, die Wartung von Maschinen und Anlagen. Aktive Fehler werden von Menschen begangen und haben am Ende der Kette der Organisationsentscheidungen unmittelbare Konsequenzen, weil sie am "scharfen Ende" Zwischenfälle und Unfälle direkt auslösen.
Abb. 1: Modell der Entstehung von Fehlern nach Reason
Im Käsescheibenmodell (Abb. 1) stellt jede Käsescheibe eine latente sicherheitsrelevante Bedingung dar. Die Löcher im Käse sind unterschiedlich groß, da die Sicherheitsnetze mal besser, mal schlechter Sicherheitslücken auffangen können.
Latente Bedingungen und aktive Fehler
Ein Arbeitsunfall ereignet sich, weil Mitarbeiter Groß vergessen hat, die Gabelverlängerung des Gabelstaplers auszufahren und die Ladung deshalb wegrutscht.
Aktiver Fehler von Herrn Groß war die Nichtbenutzung der Gabelverlängerung. Die Ladung kippte weg, weil der Schwerpunkt der Ladung sich nicht über der Gabel befand.
Latente Bedingungen waren der reale oder empfundene Zeitdruck von Mitarbeiter Groß, der aufgrund des unerwarteten Krankheitsausfalls eines Kollegen dessen Arbeit übernehmen musste. Ein Springer war nicht vorhanden.
Oftmals wird dann der Mensch mit seinem aktiven Fehler, also seinem Fehlverhalten oder seiner Fehlentscheidung verantwortlich gemacht (nach dem Motto: naming, blaming, shaming) und das Vorkommnis unter der Kategorie "menschliches Versagen" verbucht. Dabei ist es die Kombination von latenten Bedingungen und aktiven Fehlern, die zu unerwünschten Ergebnissen führen.