Gelegentlich auch als Philosophie oder als Vision bezeichnet, ist die Vision Zero tatsächlich eine Strategie. Diese Strategie hat ihren Ursprung in verschiedenen Kontinenten und unterschiedlichen Epochen, aber sie geht letztlich auf die chemische Industrie zurück.
Ein historisches Beispiel aus dem Jahr 1811 markiert den Ursprung der Vision Zero, ein aktuelles aus dem Jahr 2014 verdeutlicht die Universalität der Strategie. Der älteste bekannte Ursprung geht tatsächlich bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts auf Éleuthère Irénée du Pont de Nemours zurück. E.I. du Pont erwarb 1802 das seitdem als Ursprung des DuPont-Konzerns bekannte Grundstück am Brandywine River nahe Wilmington (Deleware, USA) und gründete einen Schwarzpulverhersteller. Schon in den ersten Betriebsjahren gab es mehrere schwere Arbeitsunfälle durch heftige Explosionen, später explodierten sogar 3 Waggonladungen von Schwarzpulver während der Fahrt mitten in Wilmington. Tote waren zu beklagen, Gebäude wurden zerstört. Als Konsequenz der schweren Arbeitsunfälle stellte du Pont bereits 1811 die ersten Sicherheitsregeln auf, in denen insbesondere dem Management die Verantwortung für die Sicherheit im Unternehmen übertragen wurde. Dies ging so weit, dass er allen Vorgesetzten auferlegte, mit ihren Familien mitten im Betriebsgelände zu wohnen. Damit demonstrierte die Betriebsleitung die Verantwortung für Leben und Gesundheit der Mitarbeiter ebenso wie das Vertrauen in das inzwischen erreichte Niveau der Arbeitssicherheit.
Wie bei E.I. du Pont zeigt auch ein aktuelles Beispiel aus einer der größten Werften weltweit in Singapur, wie einfach in der Umsetzung die Vision Zero sein kann – wenn man den richtigen Ansatzpunkt findet und kreativ denkt. Die Arbeit auf Werften ist generell gefährlich. In Singapur kommt das Klima mit täglichen Temperaturen von mehr als 30 °C und stets mehr als 90 % Luftfeuchtigkeit sowie kurzen, aber heftigen Schauern an den meisten Tagen des Jahres hinzu.
Der Ansatz der Leitung der Werft bei der Umsetzung der Vision Zero war in der Theorie einfach: Alle Beschäftigten sollten Verantwortung für die Sicherheit und Gesundheit aller anderen Beschäftigten übernehmen. Bei einem Anteil von über 90 % Wanderarbeitnehmern aus vielen asiatischen Ländern mit oft nur geringen Sprachkenntnissen eine auf den ersten Blick schwierige Aufgabe. Bei du Pont war die Residenzpflicht aller Vorgesetzten mit ihren Familien auf dem Werksgelände der Schlüssel zum Erfolg. In Singapur waren es viele, in kurzen Abständen installierte Telefone mit nur 2 Tasten: Eine verbindet mit dem Arbeitsschutz der Werft, die andere direkt mit dem Arbeitsministerium. Vom CEO der Werft über alle Hierarchieebenen wurde dann täglich kommuniziert, dass jede auch scheinbar nur so geringfügige Gefährdung von Personen sofort völlig formlos über die Telefone mitgeteilt werden solle. Und wer dem internen Arbeitsschutz nicht traut, könne jederzeit den Knopf für das Arbeitsministerium drücken. Tatsächlich gelang es mit diesem einfachen Instrument, die Verantwortung für die Sicherheit und Gesundheit aller anderen Arbeiten in den Köpfen der Menschen zu installieren und die regelmäßige Benutzung der Telefone zu einem ganz wesentlichen Bestandteil der Unternehmenskultur zu machen. Die Unfallquote sank in weniger als 2 Jahren um knapp 80 %. Dieses und ähnliche betriebliche Beispiele in Singapur finden sich unter: https://www.wsh-institute.sg/wps/portal/.
Beide Beispiele haben eine starke Symbolik: Man muss zuerst sauber analysieren, welche Unfälle mit welchen Ursachen im Betrieb typisch sind. Und dann muss man überlegen, mit welcher einfachen Maßnahme der Schalter in den Köpfen der Menschen umgelegt werden kann.
Die konsequente Analyse der Unfallursachen führt übrigens in den meisten Betrieben und öffentlichen Einrichtungen in Deutschland zu dem Ergebnis, dass die dominierende Ursache der Straßenverkehr ist. Damit sind gar nicht unbedingt Lkw-, Bus- oder Taxifahrer gemeint, sondern auch die täglichen Wegstrecken von und zur Arbeit. Diese Wegeunfälle erzeugen mehr Ausfallzeiten als die klassischen Arbeitsunfälle im Betrieb.
Wer den Weltkongress für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2014 in Frankfurt besuchte, erlebte, wie stark die Strategie der Vision Zero die aktuelle Diskussion weltweit bestimmt. Nicht nur widmete sich eines der Hauptthemen der Strategie der Vision Zero, es gab kaum eine Rednerin oder einen Redner, der sich nicht darauf bezog. Allen voran Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, die die Vision Zero als Strategie für eine Welt ohne schwere oder gar tödliche Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten ausdrücklich begrüßte. Sie wies nachdrücklich auf die notwendige Kooperation von Wissenschaft, Politik, Sozialpartnern und Unternehmen hin, um dieses Ziel zu erreichen. Die Schaffung einer Präventionskultur, in der Sicherheits- und Gesundheitsaspekte mitgedacht werden, sah sie als notwendigen Bestandteil. ILO Generaldirektor Guy Ryder argumentierte fast wortgleich, ebenso der Prä...