1.1 Definition
Das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet den Arbeitgeber, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes unter Berücksichtigung der Umstände zu treffen, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit beeinflussen. Er muss die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit überprüfen und ggf. den sich ändernden Gegebenheiten anpassen. Dabei hat er eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben.
I. d. R. übertragen Unternehmer einen Teil dieser Pflichten auf ihre Führungskräfte. Doch auch wenn dieser formale Akt nicht für alle Vorgesetztenebenen erfolgt, haben Vorgesetzte die Fürsorgepflicht für die ihnen unterstellten Mitarbeiter. Dies schließt erforderliche Arbeitsschutzmaßnahmen zur Sicherstellung der Gesundheit der Mitarbeiter ein. Ein Umstand, der häufig vergessen wird.
§ 2 Abs. 4 DGUV-V 1 "Grundsätze der Prävention" fordert konkret, dass der Unternehmer keine sicherheitswidrigen Weisungen erteilen darf. Doch wie ist es zu bewerten, wenn ein Vorgesetzter Arbeiten ohne vorgeschriebene PSA durchführt, Betriebsmittel nicht bestimmungsgemäß verwendet oder Sicherheitskennzeichen missachtet? Sicherlich sind diese Handlungen nicht mit direkten (sicherheitswidrigen) Weisungen gleichzusetzen. Betrachtet man jedoch die Auswirkungen, die diese "Vorbild-Handlungen" bei den Mitarbeitern auslösen können, so sind durchaus Parallelen erkennbar.
1.2 Hintergrund
Sicherheitsgerechtes Verhalten muss erlernt werden. Bei der Entwicklung eines Kindes hängt dies sehr stark vom Verhalten der Eltern ab. Das Kind nimmt seine Eltern als Vorbild und schaut sich deren Verhaltensbilder ab. Im übertragenen Sinn ist dies im Berufsleben nicht anders. Ein Auszubildender schaut sich Verhaltensweisen bei seinem Ausbilder ab, genauso wie der Mitarbeiter bei seinem Vorgesetzten. Verhält sich also ein Vorgesetzter sicherheitswidrig, so nehmen dies auch alle seine Mitarbeiter wahr. Die Frage "Warum soll ich mich sicherheitsgerecht verhalten, wenn der Chef dies auch nicht tut?" ist zwangsläufig.
Viele Betriebe sind engagiert im Arbeitsschutz. Es stehen sichere Maschinen und Betriebsmittel zur Verfügung, Mitarbeiter werden entsprechend sicherheitstechnisch unterwiesen und auch die gesamte Sicherheitsorganisation ist ausreichend ausgeprägt. Um dieses Niveau zu erreichen, wurden viele Anstrengungen unternommen. Mitarbeiter sind immer wieder aufgeklärt worden, warum bestimmte Sicherheitsmaßnahmen erforderlich sind und wie Arbeiten sicher ausgeführt werden können. Soweit die "heile Welt".
Was glauben Sie, was für Auswirkungen das Verhalten eines Vorgesetzten hat, der sich vor den Augen seiner Mitarbeiter sicherheitswidrig verhält? Die Auswirkungen hängen sicherlich davon ab, ob dieses Fehlverhalten häufiger beobachtet wird und wie die Sicherheitskultur im Unternehmen ist. Folgende gegensätzliche Szenarien sind denkbar:
- Die Mitarbeiter weisen den Vorgesetzten auf dessen Fehlverhalten hin und fordern das sicherheitsgerechte Verhalten ein. Sollte dieser dem nicht nachkommen, wenden Sie sich an den nächst höheren Vorgesetzten.
- Die Mitarbeiter nehmen das Fehlverhalten des Vorgesetzten zur Kenntnis und sagen sich "Prima, wenn DER dies nicht macht, muss ich es ja auch nicht machen. In der Unterweisung erzählt ER uns immer etwas anderes. Die Praxis sieht anders aus. Das hat ER ja selbst gezeigt…"
Verhalten aller Führungskräfte wichtig
Nicht nur das Verhalten und somit die Vorbildfunktion des direkten Vorgesetzten ist wichtig, sondern das aller Vorgesetzten. Gerade auch das Verhalten von anderen Führungskräften wird von den Mitarbeitern wahrgenommen. Je höher die Führungskraft angesiedelt ist, um so ausgeprägter kann der Einfluss des Fehlverhaltens dieses Vorgesetzten auf das Verhalten der Mitarbeiter sein. Vorbildfunktion ist also eine Führungsaufgabe für alle Hierarchiestufen.
1.3 Unfall- und Berufskrankheitsgeschehen
Experten schätzen, dass ca. 80 % aller Beinaheunfälle und Unfälle primär auf verhaltensbedingte Faktoren zurückzuführen sind. Ursachen sind mangelhaftes Wissen, Können und Wollen von Mitarbeitern. Doch warum wollen Mitarbeiter sich nicht immer sicherheitsgerecht verhalten? Keiner will sich doch freiwillig selbst schädigen.
Wir haben bereits als Kinder von Vorbildern gelernt. Egal, ob dies die Eltern, Geschwister, andere Kinder oder Erwachsene waren. Ob es immer "gute" Vorbilder waren, muss jeder für sich selbst entscheiden. Einfluss haben alle gehabt – im Berufsleben ist das ähnlich. Ein Auszubildender macht das nach, was ihm sein Ausbilder zeigt – egal ob es sicherheitsgerecht oder sicherheitswidrig ist. Er muss das sichere Arbeiten lernen. Verhält sich sein Ausbilder jedoch nicht entsprechend, kann man dies vom Auszubildenden auch nur schwer erwarten. Er hat es ja nicht anders gelernt.
Auch in anderen Bereichen kann das Verhalten und somit die Vorbildfunktion des Vorgesetzten unterschiedlichen (negativen oder positiven) Einfluss auf das Verhalten von Mitarbeitern haben. Dieser Anteil ist jedoch schwer zu beziffern. Vorgesetzte tragen durch organisatorische Mängel ...