Dr. Matthias Nagel, Dipl.-Betriebsw. Robin Prosch
Kunst der Vorausschau
Das letzte Jahrzehnt zeigte, dass es möglich ist, die Zukunft mittels Prognosen, Kausalkettenberechnungen und durch das Wahrnehmen von schwachen Signalen greifbar und die Komplexitäten des Unternehmensumfeldes beherrschbar zu machen. Dieser Ansatz hat jedoch auch klare Grenzen: Prognosen des Finanzsystems erwiesen sich als falsch und politische Träume einer stabilen Wirtschaft platzten. Mittlerweile wissen wir, dass nichtvorhersehbare Ereignisse, Diskontinuitäten und Strukturbrüche in postnormalen Zeiten an der Tagesordnung sind.
Dennoch oder gerade deswegen haben Fragestellungen mit mittel- bis langfristiger Orientierung an Bedeutung gewonnen. Komplexe Unternehmensumfelder, permanenter Wandel, volatile Märkte und hohe technologische Innovationsgeschwindigkeiten führten dazu, dass Entscheidungen in immer kürzeren Abständen und unter hohem Informationsdruck getroffen werden müssen.
Bei Ereignissen mit geringer Wahrscheinlichkeit und hoher Wirkstärke sind auch die Ergebnisse von Predictive Analytics Einschränkungen unterworfen. Nicht vorhersehbar war in unserem Fall bspw. der Sachverhalt, dass der Automobilhersteller aus Kapitel 2.2 trotz vieler "schwarzer" KPIs (vgl. Abb. 8) die Busproduktion ins Ausland verlagert. Die Nachricht ging zeitgleich zu unserer Analyse durch die Presse. Nach der Umsetzung des Personals kam es zu einem regelrechten Auftragsboom, da Kunden schnell noch Fahrzeuge aus deutscher Produktion bestellen wollten. Dieser Effekt lässt sich nicht durch quantifizierte Modelle abbilden, wäre aber möglicherweise durch qualitative Methoden der Zukunftsforschung in einem Vorausschauprozess als mögliche Projektion der Verlagerung der Produktionsstätte erfasst worden.
Als Ergebnis zeigt sich aus diesen und vielen anderen Beispielen:
- Oft ist die klar umrissene Aufgabe des strategischen Controllings – in Zeiten, in welchen die Zeit zwischen Vorsprung erzeugendem, unternehmerischem Handeln und die datengetriebene Kompensation durch das unternehmerische Handeln anderer Marktakteure immer kürzer wird – weder mit bisherigen Methodiken noch mit Predictive Analytics allein zu leisten.
- Die Tragweiten von Fehlentscheidungen der obersten Managementebene sind zu schwerwiegend, als dass sich das Controlling hinter einer nur aus der Vergangenheit auf gegenwärtige Entscheidungen abgeleiteten Rationalität verstecken kann. Zukünftige Erfolgsrezepte müssen ihre Richtigkeit aber erst noch beweisen, während vergangenes Handeln sich retrospektiv bewährt hat.
- Zukünftig gilt es im Rahmen der Controllerarbeit, mit einer "unangenehmen Unschärfe" umgehen zu können, stärker über Unternehmensgrenzen hinweg ausgerichtet zu sein und sich letztendlich dem – ungerechtfertigten – Nimbus der "Legitimation, weil früher schon richtig …" mental zu entziehen.
Das alles sind gute Gründe, um neben modernen Methoden wie Predictive Analytics weitere darüber hinaus gehende qualitative Instrumente zu nutzen. Das Management benötigt Vorhersagen haben, die über das Lernen aus im Haus vorhandenen und bekannten Daten hinausgeht. Wo auch immer vorhandene Informationen sammeln und Signale mit Wirkungsstärke in einem möglichen, zukünftigen Kontext des eigenen Unternehmens darzustellen, wird zu einer Kernaufgabe der Potenzialsuche des strategischen Controllings.