Prof. Dr. rer. pol. Hanno Kirsch
3.1 Verbote der retrospektiven Anwendung
Rz. 16
IFRS 1.13 untersagt in folgenden Fällen die retrospektive Anwendung von IFRS-Bilanzierungs- und Bewertungsmethoden:
- Ausbuchung finanzieller Vermögenswerte und finanzieller Schulden,
- Bilanzierung von Sicherungsbeziehungen (Hedge Accounting),
- Vornahme von Schätzungen,
- Darstellung und Bewertung von Anteilen nicht beherrschender Gesellschafter,
- Klassifizierung und Bewertung finanzieller Vermögenswerte nach IFRS 9,
- Wertminderung finanzieller Vermögenswerte nach IFRS 9,
- Trennung eingebetteter Derivate vom Basisvertrag,
- Bilanzierung von staatlichen Darlehen mit einer unter dem Marktzinsniveau liegenden Verzinsung sowie
- Versicherungsverträge nach IFRS 17.
Der Grund für die Verbote liegt in der sonst (bei retrospektiver Anwendung) möglichen Neueinschätzung eines Bilanzierungssachverhalts; hierdurch könnte mit einem späteren Wissensstand eine "vorteilhaftere" Bilanzierung erreicht werden.
Rz. 17
Ausbuchung finanzieller Vermögenswerte und finanzieller Schulden
Für nicht derivative finanzielle Vermögenswerte und Schulden können die Ausbuchungsregeln des IFRS 9 prospektiv ab dem Zeitpunkt des Übergangs zu IFRS angewendet werden. Das bedeutet, dass vor dem Zeitpunkt des Übergangs zu IFRS im vorherigen landesrechtlichen Abschluss ausgebuchte Finanzinstrumente nicht nach den IFRS-Regelungen anzusetzen sind, sofern sie nicht aufgrund einer späteren Transaktion oder eines späteren Ereignisses ansatzpflichtig werden. Damit können beispielsweise finanzielle Vermögenswerte beim Factoring oder bei Pensionsgeschäften, die nach HGB ausgebucht sind, ausgebucht bleiben, obwohl sie nach den Regeln des IFRS 9 eigentlich hätten bilanziert werden müssen.
Rz. 18
Allerdings kann gem. IFRS 1.13 i. V. m. IFRS 1.Appendix B 3 das die IFRS-Eröffnungsbilanz aufstellende Unternehmen auch wahlweise ab einem beliebigen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt die Ausbuchungsregeln des IFRS 9 freiwillig anwenden, sofern das Unternehmen über die hierfür erforderlichen Informationen zum seinerzeitigen Zeitpunkt verfügt.
Rz. 19
Bilanzierung von Sicherungsbeziehungen (Hedge Accounting)
In der IFRS-Eröffnungsbilanz sind alle Derivate zum beizulegenden Zeitwert anzusetzen. Entsprechend dürfen gem. HGB abgegrenzte Gewinne oder abgegrenzte Verluste aus derivativen Finanzinstrumenten (z. B. Rückstellung für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften) nicht als Vermögenswerte bzw. Schulden in die IFRS-Eröffnungsbilanz übernommen werden. Daraus ergibt sich für das Hedge Accounting eine ausschließlich prospektive Anwendungspflicht. Der IASB hat gegen eine retrospektive Anwendung der Regeln für das Hedge Accounting plädiert, da es nach Auffassung des IASB unwahrscheinlich ist, dass die Kriterien für das Vorliegen einer Hedge-Beziehung seit Beginn der Sicherungsbeziehung dokumentiert sind. Darüber hinaus könnte eine retrospektive Anwendung der Regeln des Hedge Accounting zu einer selektiven Identifikation von Hedge-Beziehungen, verbunden mit Verzerrungen in der IFRS-Eröffnungsbilanz, führen.
Rz. 20
Die nach den vorherigen Rechnungslegungsvorschriften bilanzierten Sicherungsbeziehungen i. S. e. Hedge Accounting dürfen jedoch dann in der IFRS-Eröffnungsbilanz beibehalten werden, wenn sie seit der Ersteinbuchung auch die Voraussetzungen des IFRS 9 (bzw. IAS 39) erfüllen. Auf die (nach Landesrecht gebildeten) Sicherungszusammenhänge, die nicht zugleich die Voraussetzungen des IFRS 9 (bzw. IAS 39) erfüllen, dürfen die Bilanzierungsvorschriften des IFRS 9 (bzw. IAS 39) nicht angewendet werden und sie dürfen nicht in die IFRS-Eröffnungsbilanz übernommen werden. Diese nur nach Landesrecht zulässigen Sicherungszusammenhänge sind unter Anwendung von IFRS 9. Kap. 6.5.6 und 6.5.7 (bzw. IAS 39.91 und 39.101) zu beenden. Eine Ausnahme besteht hingegen, falls ein Unternehmen nach den bislang angewandten Rechnungslegungsgrundsätzen eine Nettoposition als gesichertes Grundgeschäft designiert hatte (z. B. im Rahmen eines "Macro-Hedge"); in diesem Falle dürfen einzelne hierin enthaltene Geschäfte als gesichertes Grundgeschäft oder die Nettoposition als gesichertes Grundgeschäft in die IFRS-Eröffnungsbilanz übernommen werden. Allerdings müssen im letztgenannten Fall alle übrigen Voraussetzungen zur Bilanzierung von Sicherungsbeziehungen nach IFRS 9. Kapitel 6.6.1 vorliegen.
Rz. 21
Vornahme von Schätzungen
Soweit die Rechnungslegung auf Prognosen basiert, müssen die Prognosen, die zur Erstellung der IFRS-Eröffnungsbilanz verwendet werden, mit den Prognosen zur Erstellung der zu diesem Stichtag (noch) aufzustellenden landesrechtlichen – Rechnungslegungsvorschriften entsprechenden – Bilanz vereinbar sein. Eine bessere spätere Erkenntnis über die zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bilanzierenden Vermögenswerte und Schulden darf keine Auswirkung auf die IFRS-Eröffnungsbilanz haben. Abweichungen oder Inkonsistenzen zwischen den Schätzungen bei Erstellung der IFRS-Eröffnungsbilanz und der seinerzeitigen Aufstellung der nach landesrechtliche...