Kerstin Jurkeit, Michael Felix
1.1 Kurzvorstellung der Otto Group
Steckbrief
1949 in Deutschland gegründet, ist die Otto Group eine weltweit agierende Handels- und Dienstleistungsgruppe mit ca. 49.600 Mitarbeitern. Die Gruppe ist mit rund 120 wesentlichen Unternehmen in 20 Ländern Europas, Nordamerikas und Asiens präsent. Ihre Geschäftstätigkeit erstreckt sich auf die 3 Segmente Multichannel-Einzelhandel, Finanzdienstleistungen und Service. Im Geschäftsjahr 2015/16 erwirtschaftete die Otto Group einen Umsatz von 12,1 Mrd. EUR. Sie ist weltweit der größte Online-Händler für Fashion und Lifestyle, insgesamt die Nummer 2 hinter Amazon und in Deutschland Marktführer. Kataloggeschäft, E-Commerce und der stationäre Einzelhandel bilden die 3 Säulen des Multichannel-Einzelhandels der Otto Group.
1.2 Service Center Lieferantenverkehr (SC LV)
Abwicklung der Rechnungsprüfung für inländische Konzerngesellschaften
Das SC LV bietet für inländische Unternehmen der Otto Group die Durchführung der Nebenbuchhaltung Kreditoren an. Wesentliches Element dieser Dienstleistung ist die Prüfung von Rechnungen in den beiden Hauptprozessen "Handelsware" und "Nicht-Handelsware".
- Bei den Handelswaren (HaWa) handelt es sich dabei um die Waren, die im Segment Multichannel-Einzelhandel dem Endverbraucher zum Kauf angeboten werden.
- Lieferungen und Leistungen, die die Gesellschaften im Rahmen ihrer unternehmerischen Tätigkeit beziehen, werden hier als Nicht-Handelswaren (Non-HaWa) bezeichnet.
Kein Kontrahierungszwang
Kunden des SC LV sind Konzernfirmen innerhalb der Otto Group. Ein Kontrahierungszwang zur Nutzung des SC LV ist nicht vorhanden, daher können die Konzernfirmen frei wählen, ob sie die Dienstleistung der Rechnungsprüfung selbst vornehmen, das SC LV oder einen Dritten beauftragen.
Die strukturelle Ausrichtung als ein Shared Service Center bringt für das SC LV mit sich, dass die Standardisierung und Automatisierung der logistischen Rechnungsprüfung die wesentliche Zielsetzung ist, um Kostenvorteile für die Kunden und somit für die Otto Group zu erzielen. Hauptbestandteil einer optimierten logistischen Rechnungsprüfung ist der systemgestützte Abgleich der Datenbestände aus Bestellungen – Leistungserbringung Lieferung – Rechnungen (klassischer 3-Wege-Match).
1.3 Wettbewerbssituation und -fähigkeit
Forderung nach marktgerechten Preisen
Der nicht vorhandene Kontrahierungszwang bringt für das SC LV eine Wettbewerbssituation in 2 Dimensionen mit sich.
- In der Wettbewerbssituation gegenüber der Konzerngesellschaft gilt es, die Dienstleistung kostengünstiger als eine Eigenabwicklung darstellen und anbieten zu können.
- Auch gegenüber dritten Dienstleistungsunternehmen, die im Rahmen eines Business Process Outsourcing (BPO) durch die Konzerngesellschaft beauftragt werden können, müssen die Preise des SC LV einem Vergleich standhalten können.
Um bestehende Kunden halten und neue Kunden gewinnen zu können, muss also ein drittvergleichsfähiges Produkt- und Preismodell gefunden werden, welches etwas über die Leistungsfähigkeit des SC LV aussagen kann.
Zudem forderten viele Kunden eine differenzierte Preisbetrachtung, mit der sie später in der Lage sind, aus ihrer Sicht Kostentreiber selber zu identifizieren und ihre Prozesse so zu ändern, dass es zu Kosteneinsparungen kommt. Es bestand ferner der Wunsch, für die einzelnen Leistungen Einzelaufrisse der dahinter stehenden Vorgänge zu erhalten und eigene Recherchen auf Vorgangsebene durchführen zu können.
1.4 Altes Produktmodell
Starre Strukturen im alten Produktmodell
Das alte Produkt- und Preismodell folgte grob den beiden Hauptprozessen der zu erbringenden Dienstleistung. Dabei wurde sowohl HaWa als auch Non-HaWa in die Produktgruppen Rechnungseingangsbearbeitung und Rechnungsprüfung aufgeteilt. Die Produkte im Rechnungseingang wurden getrennt nach elektronischem und papiergebundenem Eingang und damit nach dem zu betreibenden Aufwand zur Erzeugung eines digitalen Rechnungsdatenbestands. Die Rechnungsprüfung differenzierte in beiden Fällen grundsätzlich nur nach Rechnungen, die automatisch gebucht wurden ("no-touch") und manuellem Klärungsbedarf.
Abb. 1: Das alte Produktmodell – reguläre Leistungen
Preisfestsetzung im Nachhinein
Der zu zahlende Preis für eine Rechnungsbearbeitung wurde nachträglich ermittelt. Nach Abschluss der Bearbeitung einer Rechnung (Prüfung und Klärung, Buchung und Zahlung) wurde geprüft, welcher Eingangskanal genutzt wurde und ob ein manuelles Eingreifen erforderlich war. Dabei war unbedeutend, welcher Art und Umfang das manuelle Eingreifen war. Gerade aber der Aufwand zur manuellen Bearbeitung von Unklarheiten unterscheidet sich maßgeblich voneinander, wie die Prozesskostenrechnung später deutlich gemacht hat.
Unterschiedlicher Workflow bei Preis- und Mengendifferenzen
Bei der Klärung einer Preisdifferenz zulasten des Kunden kommt ein elektronischer Workflow zum Einsatz, der je nach Entscheidung durch den Einkäufer systemseitig die entsprechenden Kontokorrentbuchungen und Belastungsanzeigen vorbereitet und erstellt. Dagegen erfolgen bei der Bearbeitung einer Rechnung mit Mengendifferenz die einzelnen Prozessschritte manuell und erzeugen da...