Prof. Dr. Heimo Losbichler
1.1 Kritikpunkte an der traditionellen Budgetierung
Planung, Budgetierung und Forecasting gehören seit jeher zu den Kernaufgaben von Controllern, mit denen sie einen Großteil ihrer Arbeitszeit verbringen. Die überraschende Entwicklung der Coronakrise hat diesen Zeitanteil signifikant erhöht und gleichzeitig die Grenzen der Planbarkeit und Prognostizierbarkeit verdeutlicht. Insbesondere zu Beginn des Lockdowns mussten Controller bestehende Planungen über Bord werfen und entsprechend der herrschenden Unsicherheit Forecasts teilweise im Wochentakt aktualisieren.
Die Klage über ein komplexes, unsicheres, schwer planbares Umfeld und das vorzeitige "überholt sein" von Budgets und Forecasts ist jedoch nicht neu und keine Corona-spezifische Erscheinung. Budgets und Forecasts sind heute nach wie vor das "Herzstück" der finanziellen Unternehmenssteuerung, auch wenn ihre Effizienz und Wirksamkeit seit langem hinterfragt wird. Nachfolgende Hauptkritikpunkte werden von Controllern wie Managern angeführt:
- Mangelnde Planbarkeit und vorzeitiges "überholt sein" angesichts unsicherer dynamischer Marktbedingungen;
- unverhältnismäßiger Zeitaufwand bei der Erstellung;
- starre Vorgaben und mangelnde Entscheidungsflexibilität;
- taktische Spiele wie das Bilden von Budgetreserven oder das bewusste Aufbrauchen offener Budgets zum Jahresende.
Auch wenn Budgets und Forecast untrennbar miteinander verbunden sind, haben letztere heute ein deutlich besseres Image. Von den 4 angeführten Kritikpunkten werden die letzten 3 primär dem Budget und weniger dem Forecast angekreidet. Auf der Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten haben sich mit "Better Budgeting" und "Beyond Budgeting" 2 gegensätzliche Alternativen entwickelt und einen emotionalen Richtungsstreit entfacht. Dieser fand im deutschen Sprachraum in den Jahren 2006 und 2007 seinen Höhepunkt, als der Beyond Budgeting Round-Table (BBRT) das Ende der traditionellen Budgetierung forderte. Auch wenn sich Beyond Budgeting in der Praxis nicht durchsetzen konnte, stellte sich die Frage der Planbarkeit mit dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 rasch wieder.
Entsprechend der damals herrschenden Unsicherheit, die mit jener der aktuellen Coronakrise vergleichbar ist, etablierte sich der Begriff VUCA – Volatility, Uncertainty, Complexity and Ambiguity – für das "new normal" bei der Erstellung von Budgets und Prognosen. Als Reaktion auf die eingeschränkte Vorhersagbarkeit wurden Konzepte wie die Moderne Budgetierung, Szenarioplanung, Bandbreitenplanung oder Rolling Forecasts vorgestellt, die auf unterschiedliche Weise den Abschied von detaillierten, punktgenauen Planungen und Prognosen propagierten. Seit dieser Zeit hat sich im Controlling die Bedeutung schnellerer, weniger detaillierter und häufiger erstellter Forecasts im Vergleich zum traditionellen Budget erhöht.
1.2 Maschinelle Forecasts: Große Erwartungen, aber noch bescheidene Umsetzung
Mit dem Einzug der Digitalisierung ist die Diskussion über die Erstellung von Budgets und Forecasts wieder neu aufgeflammt, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Der Zugang zu bislang nicht vorhandenen Daten (Big Data), nahezu unlimitierter Rechenleistung sowie lernenden Algorithmen haben einen Paradigmenwechsel ausgelöst und den Glauben an die Prognostizierbarkeit der Zukunft durch moderne IT-Systeme – zumindest bis zum Ausbruch der Coronakrise – wieder auferstehen lassen. Schlagwörter wie Predictive Analytics, Predictive Planning and Forecasting, KI oder maschinelle Forecasts sind heute in aller Munde. Dabei kommen IT-gestützte, voraussagende Modelle, die auf statistischen Methoden und lernenden Algorithmen basieren, im Rahmen der Budget- oder Forecasterstellung zum Einsatz.
Über die tatsächliche Nutzung derartiger Modelle zeigen die Studien ein ähnliches Bild. Laut einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums nutzen derzeit lediglich 5 % der deutschen Unternehmen KI in einem ihrer Unternehmensbereiche. Der Anteil der Unternehmen, die KI im Controlling einsetzen, müsste damit verschwindend gering sein. Die BARC-Studie "Predictive Planning and Forecasting" zeigt einen etwas höheren Durchdringungsgrad: 17 % der Unternehmen beschäftigen sich bereits damit und bauen aktuell Know-how auf. Die große Mehrheit (69 %) plant, Know-how aufzubauen und lediglich 14 % haben den Know-how-Aufbau auch in Zukunft nicht geplant. Der Einsatz derartiger Technologien steht damit erst am Beginn. Gleichzeitig gibt es eine große Erwartungshaltung an KI-basierte Planungstools:
- 75 % sehen eine steigende Relevanz von Predictive Planning and Forecasting,
- 65 % erwarten eine höhere Qualität und Genauigkeit der Forecasts,
- 59 % erwarten einen geringeren Planungsaufwand durch den Einsatz automatisierter Hochrechnungen.
Die wenigen Erfahrungsberichte vorwiegend großer Konzerne scheinen die Erwartungshaltung und die Überlegenheit maschineller Forecasts zu bestätigen. Abb. 1 vergleicht die monatliche Entwicklung des menschlichen und maschinellen Year-End-Forecasts in einem großen internationalen Konzern. Der maschinelle Forecast hat dabei den Abschwung um 3 Monate f...