3.1 "Bestmögliche Schätzung" des Erfüllungsbetrags
Die Rückstellungshöhe bemisst sich gemäß IAS 37.37 nach der bestmöglichen Schätzung, d. h. nach dem Betrag, "den das Unternehmen bei vernünftiger Betrachtung zur Erfüllung der Verpflichtung zum Bilanzstichtag oder zur Übertragung der Verpflichtung auf einen Dritten zu diesem Termin zahlen müsste". In der Handelsbilanz ist nach § 253 Abs. 1 Satz 2 HGB der "nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendige Erfüllungsbetrag" anzusetzen. Die Übereinstimmung zwischen beiden Formulierungen ist auffällig und lässt den Schluss zu, dass wesentliche Bewertungsunterschiede zwischen IFRS und HGB insofern nicht bestehen. Für statistisch fassbare Risiken, wie Garantiekosten, die mit dem wahrscheinlichkeitsgewichteten Wert (Erwartungswert) erfasst werden, gilt diese Schlussfolgerung uneingeschränkt. Für Einzelverpflichtungen gilt sie zumeist, wenn es einen wahrscheinlichsten Wert gibt. Dieser wahrscheinlichste Wert ergibt sowohl nach IFRS als auch nach HGB in der Regel den Rückstellungsbetrag. Ein Teil der Literatur konzentriert sich jedoch auf einen (theoretischen) dritten Fall: bei einer Bandbreite gleich wahrscheinlicher Ereignisse soll demzufolge nach HGB der höchste Wert anzusetzen sein, während nach IAS 37.39 der Mittelwert der Bandbreite zu verwenden ist.
Beispiel
Die Erben des verunglückten Josef Schmitz beanspruchen nach wie vor 1 Mio. EUR von der Power Car GmbH. Zum nächsten Bilanzstichtag gibt es ein neues Gutachten, das für die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung spricht. Für den Fall einer Verurteilung werden Beträge von 0,2 Mio. EUR, 0,4 Mio. EUR und 0,6 Mio. EUR als gleich wahrscheinlich angesehen. Nach IFRS wäre der Wert von 0,4 Mio. EUR zurückzustellen, nach herrschender HGB-Meinung der Wert von 0,6 Mio. EUR.
Der Unterschied ist eher theoretischer Natur. Die Wahrscheinlichkeiten lassen sich nicht wirklich quantifizieren. Man wird Argumente finden können, dass der Wert von 0,6 Mio. EUR etwas wahrscheinlicher ist als die beiden anderen Werte. Auch nach IFRS wären dann 0,6 Mio. EUR zurückzustellen. Bei anderer bilanzpolitischer Zielsetzung wird man ebenso Argumente dafür finden können, dass der mittlere Wert der wahrscheinlichste ist. Auch nach HGB wären dann 0,4 Mio. EUR zurückzustellen.
3.2 Rückgriffsrechte und Saldierungen
Von vornherein auf eine Saldierung angelegt sind sowohl nach IFRS als auch nach HGB Drohverlustrückstellungen. Eine Rückstellung ergibt sich in diesen Fällen nur aus einem drohenden Verlust, d. h. aus einer Saldogröße von Aufwendungen und Erträgen.
Auch bei anderen Rückstellungen kann sich die Saldierungsfrage stellen, nämlich dann, wenn der Verpflichtung bedingte Erstattungsansprüche, z. B. gegen Versicherungen, gegenüberstehen. Nach HGB ist dieser Rückgriffsanspruch dann bei der Bewertung der Rückstellungen zu berücksichtigen, wenn er bei tatsächlicher Inanspruchnahme aus der Rückstellung zwangsläufig und werthaltig entsteht. Diese Voraussetzung ist bei tatsächlich versicherten Risiken (Versicherung ungekündigt, kein sachlicher Risikoausschluss) regelmäßig gegeben. Nach IAS 37.53 führt der Erstattungsanspruch unter vergleichbaren Voraussetzungen zu einem eigenen Aktivposten.
Beispiel
Die Power Car GmbH rechnet zum Bilanzstichtag damit, dass sie 0,4 Mio. EUR an die Erben von Josef Schmitz zahlen muss. Sie ist für diesen Fall mit einer Selbstbeteiligung von 50 TEUR versichert. Die Versicherung ist ungekündigt, alle Prämien sind bezahlt, ein nicht versichertes grob fahrlässiges oder vorsätzliches Handeln ist mit größter Wahrscheinlichkeit auszuschließen.
- Nach HGB sind 350 TEUR zurückzustellen.
- Nach IAS 37.53 ff. ist die Rückstellung mit 0,4 Mio. EUR zu bewerten und ein separater Vermögenswert für die zu erwartende Versicherungserstattung von 50 TEUR zu aktivieren, wenn es so gut wie sicher ist, dass das Unternehmen diese Erstattung bei Verurteilung erhalten wird.
Vor allem im angelsächsischen Raum werden Umweltverpflichtungen z. T. von mehreren betroffenen Unternehmen in einer besonderen Einheit ("Entsorgungsfonds") gebündelt, wobei die Unternehmen mindestens subsidiär in der Haftung bleiben. In diesem Kontext kann die Frage der Bilanzierung von Rückgriffsrechten relevant werden. IFRIC 5 bestimmt hierzu Folgendes:
- Vorrangig ist zu prüfen, ob der Anteil an dem Entsorgungsfonds (gemeinschaftliche) Kontrolle bzw. signifikanten Einfluss vermittelt (IFRIC 5.8). Ist dies der Fall, wird der Fonds (quotal oder voll) konsolidiert, d. h. sein Vermögen und seine Schulden erfasst bzw. at equity mit dem Anteil am Eigenkapital abgebildet.
- Bestehen keine Einfluss- oder Kontrollmöglichkeiten, hat das Unternehmen die Entsorgungsverpflichtungen so zu passivieren, als ob der Fonds nicht bestünde (IFRIC 5.7). Daneben sind die Erstattungsansprüche gegen den Fonds gemäß IAS 37.53 ff. zu erfassen.
3.3 Abzinsung
§ 253 Abs. 1 Satz 2 HGB a. F. ließ die Abzinsung von Rückstellungen nur zu, "soweit die ihnen zugrunde liegenden Verbindlichkeiten einen Zinsanteil enthalten". Im Fall von Sachleistungsverpflichtungen (z. B. bei Rekultivierung) war diese Voraussetzung ...