Dr. Matthias Nagel, Prof. Dr.-Ing. Ralph Riedel
Digitalisierung von Lieferketten
Bereits heute sind Teilprozesse digital. Digitalisieren lassen sich das durchgängige Nachverfolgen von Waren, die Automatisierung der Abfertigung, die Organisation der Auslieferung, eine automatisierte Dokumentation und Prozesse im Lager, wo Aufbereitung für Auslieferung an Endkunden bzw. Bereitstellung für den Handel erfolgen.
Digitalisierung bringt der Branche zahlreiche Vorteile wie Zeitersparnis, geringere Fehler- und Ausfallanfälligkeit, Entlastung des Personals von unnötiger, monotoner manueller Tätigkeit und zum Teil Einsparung von Lagerflächen. Digitale Belege in den Prozessstufen Abfertigung, Lager, Auslieferung sparen Zeit und reduzieren Abfall. Für Nachverfolgung von Waren werden aus dem "Internt of Things (IoT)"- Umfeld Asset Visibility-Technologien eingesetzt, die Lieferketten zuverlässiger machen. Damit erfasste Zustände oder Bewegungen von Waren lassen sich intern nutzen oder als Service an Kunden weitergeben. KI ist in den Teilbereichen der Logistikkette sinnvoll, für die digitale Daten vorliegen.
Die aktuellen Krisen zeigen, dass Firmen über obige Digitalisierungsmöglichkeiten hinaus für den Aufbau von Resilienz relevante Daten zu möglichen Lieferanten sammeln und als Potenzial für Redundanz und verteilte Systeme aktuell vorhalten sollten. Diese Informationen sind bei Entscheidungen zu berücksichtigen, da so Risiken durch Nicht-Verfügbarkeit von Rohstoffen, Vorprodukten und Komponenten gesplittet werden können. Das Sammeln dieser Daten und Informationen kann z. B. parallel zur Ermittlung des CO2-Fußabdruckes von Produkten erfolgen (wofür Software noch zu entwickeln ist). So, wie ein niedriger CO2-Fußabdruck zum wichtigen Vertriebsargument wird, kann das Wissen um Herkunft von Rohstoffen und Vorprodukten zur "Lebensversicherung" für Unternehmen werden. Sind diese Daten verfügbar, können Algorithmen proaktiv Hinweise auf aktuelle mögliche Risiken bzgl. der Verfügbarkeit geben und diese zusammen mit Kosten, Lieferzeiten etc. möglicher Zulieferer dynamisch "einzupreisen", um so Entscheidungen zu unterstützen.
Den größten Kostenanteil einer Zustellung erzeugt der Transport der Ware vom Lager zur Haustür des Kunden, die Logistik der "Letzen Meile". Das ORION-System von UPS zeigt seit 2015 auf, was an Digitalisierung und Big Data Analytik alles möglich ist. Durch Routenoptimierung werden Strecken auf dem günstigsten Weg abfahren, was bei Personal und Maschinen überflüssige Einsatzzeiten vermeidet und den Kraftstoffbedarf und CO2-Ausstoß verringert. Bei automatisierter Verteilung eingehender Aufträge zu Touren werden Auftrags-, Kunden- und Fahrzeugbeschränkungen berücksichtigt. Kosteneinsparungen von bis zu 20 % sind dadurch möglich.
Vernetzung von Lieferketten
Für Logistikunternehmen kommt es heute darauf an, möglichst viele – am besten alle – Teil- und Kernprozesse zu digitalisieren und z. B. über Plattformökosysteme zu vernetzen. Auch andere an der Lieferkette beteiligte Firmen profitieren davon, digitalisierte logistische Prozesse ermöglichen ihnen dies.
Zukünftig werden an die Stelle linearer Lieferketten Digital Supply Networks (DSN) treten, die allein durch die Querverbindungen im Liefernetzwerk resistenter sind. Hersteller und Zulieferer in einem DSN können durch den digitalen Datenfluss mittels geeigneter Algorithmen Risiken, Verfügbarkeit, aktuelle Kosten möglicher Zulieferer im DSN dynamisch analysieren, um damit datenbasierte Entscheidungen treffen und auf Ereignisse reagieren zu können. Durch seine Architektur ist ein DSN flexibel und robuster bezüglich Ausfällen als übliche rein kostenoptimierte Lieferketten. Damit ein solches DSN funktioniert, ist es wichtig zu wissen, woher Zulieferer im DSN Rohstoffe für Vorprodukte oder Komponenten beziehen, die letztendlich von Herstellern im DSN eingesetzt werden sollen. Trotz vieler Vorteile führt ein DSN jedoch auch zwangsläufig zu höherer Komplexität. Mit KI und Augmented Analytics kann man versuchen, die Komplexität zu beherrschen. Grundvoraussetzung sind immer aktuelle digitale Daten (z. B. über Plattformen). Zusätzlich sollte ein Komplexitäts- und Konfigurationsmanagement die Logistik unterstützen.
All das sind gewaltige Herausforderungen für Logistikfirmen und Entwickler von Logistiksoftware! Letztere sollten im Interesse ihrer Kunden über den Tellerrand blicken und statt in ihren Lösungen Teilprozesse zu digitalisieren, in ein neues digitales und vernetztes Betriebssystem mit digitalen Kernprozessen und offenen Schnittstellen zu investieren, welches zwingend analytische und simulative Komponenten (Data Science) für proaktive Entscheidungsunterstützung enthalten muss.