Prof. Dr. Isabel von Keitz, Prof. Dr. Peter Wollmert
Tz. 75
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Schwebende Geschäfte fallen gemäß IAS 37.3 grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich des IAS 37. Mit diesem Ausschluss soll vermieden werden, dass die Bilanz durch die Passivierung von Verpflichtungen, denen entsprechende Ansprüche gegenüberstehen, aufgebläht wird (vgl. Tz. 25; zur Begründung der Nichtaktivierung von schwebenden Geschäften nach HGB, welche grundsätzlich auch auf IAS 37 übertragbar ist, Baetge/Kirsch/Thiele, 15. Aufl., 2019, S. 446ff.). Sofern allerdings aufgrund von vergangenen Ereignissen die Verpflichtungen aus einem schwebenden Vertrag die Ansprüche übersteigen, ist in Höhe des Verpflichtungsüberschusses grundsätzlich eine Rückstellung für Verluste aus schwebenden Geschäften zu passivieren. Belastende Verträge liegen insofern nur dann vor, wenn der Saldo aus Anspruch und Verpflichtung negativ ist. Eine Reduktion eines positiven Saldos respektive ein entgangener Gewinn führen hingegen nicht zu einem belastenden Vertrag und können damit auch keine Rückstellungsbildung auslösen. Wenn zB ein Unternehmen Waren für einen Preis von 100 GE bestellt, aber bis zum Bilanzstichtag noch nicht erhalten hat und diese am Bilanzstichtag zum Preis von 90 GE zu beschaffen wäre, liegt kein belastender Vertrag vor, sofern davon auszugehen ist, dass das Unternehmen die bestellten Waren noch für mindestens 100 GE weiterveräußern kann.
Tz. 76
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Belastende Verträge können sich grundsätzlich aus schwebenden Absatz- oder Beschaffungsgeschäften oder Dauerschuldverhältnissen ergeben (zur Systematisierung vgl. Lüdenbach/Hoffmann/Freiberg (Hrsg.), 18. Aufl., § 21 Tz. 51). Bis zum Erlass des IFRS 15 war im Fall von Fertigungsaufträgen iSd. IAS 11 nicht IAS 37 (vgl. Tz. 7), sondern IAS 11.36 relevant ist (zur Erfassung drohender Verluste aus Fertigungsaufträgen gem. IAS 11 Melcher/David/Skowronek, 2013, S. 80f.). Mit dem Erlass des IFRS 15 wurde IAS 11 indes aufgehoben. Da IFRS 15 keine Regelungen zur bilanziellen Behandlung von belastenden Kundenverträgen enthält, ist auch für diese nunmehr IAS 37 anzuwenden (vgl. Fink/Antonakopoulos, PiR 2019, S. 35).
Wird im Zusammenhang mit dem belastenden Vertrag (zB Beschaffung einer Maschine, Verkauf von Produkten) ein aktivierter Vermögenswert (zB zu liefernde Maschine oder zum Verkauf bestimmte Produkte) "genutzt", ist zunächst dieser Vermögenswert ggf. nach IAS 36 oder IAS 2 abzuschreiben. Erst wenn die Verluste aus dem Vertrag den Buchwert des Vermögenswerts übersteigen, dh., wenn der Vermögenswert auf null abgeschrieben wurde und ein weiterer Verlust droht, ist hierfür eine Rückstellung zu passivieren (IAS 37.69). Bezogen auf das kleine Beispiel oben (vgl. Tz. 75) würden die Waren, die im alten Jahr noch geliefert und mit Anschaffungskosten von 100 GE eingebucht wurden, am Bilanzstichtag nicht auf 90 GE abgeschrieben werden, solange die Nettoveräußerungskosten bei mindestens 100 GE liegen. Nicht zuletzt dieser Vorrang der Erfassung von Wertminderungen vor der Rückstellungsbildung verdeutlicht, dass der Zweck der Passivierung von Rückstellungen darin besteht, im Sinne einer verlustfreien Bewertung (ähnlich Lüdenbach/Hoffmann/Freiberg (Hrsg.), 18. Aufl., § 21 Tz. 52) unrealisierte Verluste, denen sich das Unternehmen nicht mehr entziehen kann (zur Unentziehbarkeit vgl. Tz. 48 ff.) frühzeitig zu erfassen. In Abgrenzung zu den nach IAS 37.63ff. nicht zu erfassenden künftigen betrieblichen Verlusten bedingt die Rückstellung aufgrund eines belastenden Vertrages, dass ein Vertrag abgeschlossen wurde und nicht mehr kostenfrei stornierbar ist (zur Abgrenzung vgl. auch Tz. 72).
Tz. 77
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Gemäß IAS 37.68 werden belastende Verträge als Verträge definiert, bei dem die unvermeidbaren Kosten zur Erfüllung der vertraglichen Pflichten höher als der erwartete wirtschaftliche Nutzen ist. Wobei die Kosten zur Erfüllung der vertraglichen Pflichten das Minimum aus den Kosten zur Erfüllung des Vertrags und den Kosten bei Nicht-Erfüllung des Vertrags bestimmt sind. Dabei unterstellt der IASB wohl, dass ein ökonomisch handelnder Kaufmann, die Variante wählt, die für das Unternehmen günstiger respektive mit geringeren Kosten verbunden ist. Trotz dieser Definition lassen die Vorschriften verschiedene Fragen offen, die in den folgenden Tz. diskutiert werden:
- Welche Kostenbestandteile sind zur Ermittlung der unvermeidbaren Kosten bei Vertragserfüllung zu berücksichtigen?
- Wie ist der Nutzen aus einem schwebenden Vertrag zu ermitteln bzw. wie ist vorzugehen, wenn dieser nicht zuverlässig ermittelbar ist?
- Müssen die Kosten der Nicht-Erfüllung eines Vertrages berücksichtigt werden, auch wenn das Unternehmen die Erfüllung des Vertrages beabsichtigt?
- Muss jeder Vertrag isoliert betrachtet werden oder können/müssen Verträge zu einer wirtschaftlichen Einheit (ggf. mit einer CGU) zusammengefasst werden?
Tz. 78
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Ad a) Welche Kostenbestandteile sind zur Ermittlung der unvermeidbaren Kosten bei Vertragserfüllung...