Prof. Dr. Isabel von Keitz, Prof. Dr. Peter Wollmert
Tz. 68
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Gemäß IAS 37.31 besteht ein Aktivierungsverbot für Eventualforderungen (zur Definition vgl. Tz. 24). So dürfen mögliche Vermögenswerte, die aus vergangenen Ereignissen resultieren, deren tatsächliche Existenz indes erst von dem Eintritt oder Nichteintritt mindestens eines künftigen, unsicheren Ereignisses abhängt, welches vom Unternehmen nicht vollständig kontrollierbar ist, nicht aktiviert werden. Die Eventualforderungen entstehen regelmäßig aufgrund nicht planbarer, unerwarteter Ereignisse, die zu einem möglichen Nutzenzufluss führen, wie zB im Fall eines möglichen Anspruchs aus einem anhängigen Gerichtsverfahren, dessen Ausgang nicht vorhersehbar ist (IAS 37.32; vgl. auch Reinhart, BB 1998, S. 2520). Weitere Beispiele für Eventualforderungen sind Entschädigungszahlungen der öffentlichen Hand, Schenkungen, Spenden, Zahlungen von Versicherungen, sofern diesen keine zurückgestellten Verpflichtungen gegenüberstehen (vgl. zu den Beispielen ADS Int 2002, Abschn. 18, Tz. 299; von Oertzen, in: Beck IFRS-Handbuch, § 9, Tz. 73). Stehen den möglichen Zahlungen von Versicherungen noch zu erfüllende Verpflichtungen gegenüber, sind die speziellen Vorschriften für Rückerstattungen in IAS 37.53ff. zu beachten (vgl. Tz. 114 ff.). Eventualforderungen sind insofern von Rückerstattungen zu differenzieren (vgl. Lüdenbach/Hoffmann/Freiberg (Hrsg.), 18. Aufl., § 21, Tz. 127).
Tz. 69
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Ist der Nutzenzufluss einer Eventualforderung wahrscheinlich (probable), sind hierzu verschiedene Anhangangaben offenzulegen (IAS 37.34; zu den Anhangangaben vgl. Tz. 140 ff.; zur Konkretisierung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs vgl. Tz. 59 ff.).
Die augenscheinliche Parallelität dieser Angabepflicht für Eventualforderungen mit der für Eventualverbindlichkeiten unterscheidet sich allerdings materiell in folgenden zwei Punkten:
- Eventualforderungen sind nur solche möglichen Nutzenvorteile eines Unternehmens, die nicht alle Definitionsmerkmale eines Vermögenswerts (assets) iSd. framework 2010 erfüllen. Anders als bei Vermögenswerten stellt die Erwartung eines künftigen Nutzenzuflusses kein Definitionsmerkmal für Eventualforderungen dar. Gemäß IAS 37.32 ist der Nutzenzufluss hingegen nur möglich, kann aber nicht erwartet werden, da er noch von nicht vom Unternehmen beeinflussbaren Faktoren abhängt. Gegenwärtige Vermögenswerte, die zwar die Definition von Vermögenswerten, aber nicht die Aktivierungsvoraussetzungen erfüllen, stellen hingegen keine Eventualforderung iSd. IAS 37 dar und fallen somit nicht in den Anwendungsbereich von IAS 37. Im Unterschied dazu zählen zu den Eventualverbindlichkeiten neben den möglichen Schulden, die nicht die Definitionsmerkmale von Schulden erfüllen, auch die gegenwärtigen Schulden, die die Erfassungskriterien nicht erfüllen (vgl. Tz. 63).
- Eine Angabepflicht für Eventualforderungen besteht nur dann, wenn der Nutzenzufluss wahrscheinlich (probable) iSv. mehr als 50 % ist (zur Interpretation von probable iSd. IAS 37 vgl. Tz. 59). Bei Eventualverbindlichkeiten reicht es hingegen für eine Angabepflicht aus, dass die Wahrscheinlichkeit des Nutzenabflusses nicht gering (remote) ist. Demnach ist ggf. auch bei einem Nutzenabfluss mit einer Wahrscheinlichkeit von unter 50 % zu berichten (vgl. Tz. 63). Damit wird bei dem Nutzenzufluss für die Angabe einer Eventualforderung ein höherer Wahrscheinlichkeitsgrad vorausgesetzt als bei Eventualverbindlichkeiten.
Tz. 70
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
In IAS 37.33 und IAS 37.35 führt der IASB weiter aus, dass Eventualforderungen als Vermögenswerte und ggf. als Ertrag in der Bilanz und der Gesamtergebnisrechnung zu erfassen sind, wenn der Nutzenzufluss bzw. die Realisierung der Erträge so gut wie sicher ist (virtually certain). Dieses Kriterium "so gut wie sicher" ist weder mit der allgemeingültigen Erfassungs-/Ansatzgrundsätzen im framework 2010 des IASB für Vermögenswerte und Erträge (F.4.38) noch mit den Erfassungsvorschriften in einzelnen Standards für verschiedene Vermögenswerte (zB IAS 16; IAS 38) oder Erträge (zB IFRS 15) vereinbar. Denn grundsätzlich wird für den Ansatz von Vermögenswerten ua. gefordert, dass der Nutzenzufluss wahrscheinlich (probable) ist, wobei probable in IAS 37 als >50 %-Wahrscheinlichkeit konkretisiert wird (vgl. Tz. 59 ff.). Mit dem Ansatzkriterium "virtually certain" wird demnach eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeitsgrenze gefordert. Ernst & Young konkretisiert diese Wahrscheinlichkeitsgrenze für "virtually certain" nahezu 100 % (vgl. Ernst & Young, 2020, S. 1848). Damit wird in IAS 37.33 systemfremd der Ansatz von Vermögenswerten (Eventualforderungen) bzw. die Erfassung von Erträgen geregelt. Faktisch ist zB eine Zahlung aus einem anhängigen Prozess erst dann so gut wie sicher, wenn der Prozess vor dem Bilanzstichtag gewonnen wurde (vgl. ähnlich Ernst & Young, 2020, S. 1848). Dann stellt der Anspruch allerdings keine Eventualforderung mehr, sondern einen tatsächlichen Rechtsanspruch dar.