Prof. Dr. Andreas Barckow
Tz. 210
Stand: EL 37 – ET: 2/2019
Ein "Dauerbrenner" in der Diskussion um die sachgerechte Bewertung von Finanzinstrumenten ist die Frage nach dem Einbezug des eigenen Kreditrisikos bei der Bemessung des beizulegenden Zeitwerts finanzieller Verbindlichkeiten (s. a. Becker/Wiechens, WPg 2010, S. 228ff.). Wie vorstehend (vgl. Tz. 206) ausgeführt, sind bei einer modellgestützten Ermittlung des beizulegenden Zeitwerts sämtliche bewertungsrelevanten Einflussfaktoren zu berücksichtigen; einer dieser Faktoren ist das Bonitätsrisiko. Dies leuchtet bei der Bewertung finanzieller Vermögenswerte auch unmittelbar ein, hängt doch die Werthaltigkeit des Anspruchs nicht zuletzt davon ab, ob der Schuldner seinen vertraglichen Verpflichtungen ordnungsgemäß nachkommt. Legt man denselben Maßstab indes bei den finanziellen Verbindlichkeiten an und nimmt die Sichtweise der Gegenpartei ein, ergibt sich vordergründig ein anderes Bild: Das in die Wertbemessung einzubeziehende Bonitätsrisiko wäre in diesem Fall nämlich das eigene Kreditrisiko (own credit risk)! Veränderungen der eigenen Bonität müssten sich somit im Wertansatz der Schulden widerspiegeln, wenn diese zum beizulegenden Zeitwert bewertet würden. Dies führt insbesondere bei Verschlechterungen der Bonität zu dem scheinbar widersinnigen – nicht Wenige würden sagen: perversen – Ergebnis, dass infolge der Abwertung der Verbindlichkeit ein Ertrag zu erfassen wäre (s. a. Chasteen/Ransom, Accounting Horizons 2007, S. 123 und 125). Ist dieses Resultat schon schwer genug zu verdauen, führen insbesondere Vertreter der juristischen Zunft ins Feld, dass dem Unternehmen nichts geschenkt werde, sondern es seine Schulden nach wie vor in der vertraglichen Höhe zu bedienen und zurückzuzahlen habe; für eine Abwertung sei also überhaupt kein Raum. Auch wird argumentiert, dass eine bilanzielle Berücksichtigung der gesunkenen Bonität dem Grundsatz der Unternehmensfortführung widerspräche (vgl. Beyer/Hermens/Römhild, IRZ 2010, S. 329) – eine kühne Aussage, die nicht wirklich zu der Aussage des IASB passen will, wonach der Definition des beizulegenden Zeitwerts gerade die Annahme zugrunde liegt, dass das Unternehmen fortgeführt wird!
Tz. 211
Stand: EL 37 – ET: 2/2019
Bei der Aufarbeitung der Thematik sind zwei Sachverhalte auseinanderzuhalten: die Frage, ob das Unternehmen juristisch gehalten ist, die Schuld vereinbarungsgemäß zurückzuzahlen, sowie die Frage, welchen Wert Marktteilnehmer diesem Schuldversprechen am Stichtag beimessen würden. In der öffentlichen Diskussion werden diese Fragestellungen häufig miteinander vermengt, was einer sachlichen Beurteilung nicht eben dienlich ist. So wird nicht selten argumentiert, die Rechnungslegung würde einen möglichen Erlass oder Rückkauf der Schuld abbilden, obwohl diese weder rechtlich möglich noch beabsichtigt sei. Dem sei entgegnet: Das hat der IASB auch nie behauptet oder in Abrede gestellt. Der Grund, warum die Abwertung der Schuld und die korrespondierende Ertragserfassung abgebildet werden, liegt einmal mehr in der Definition des beizulegenden Zeitwerts als Abgangspreis begründet: Die finanzielle Verpflichtung soll mit dem Wert bemessen werden, zu dem am Stichtag unter Berücksichtigung der aktuellen Marktverhältnisse eine Übertragung auf eine andere vertragswillige und -kundige Partei möglich gewesen wäre. Da auf die aktuellen Marktverhältnisse abzustellen ist (und nicht auf die Verhältnisse bei Geschäftsabschluss oder jene bei zukünftiger ordnungsgemäßer Erfüllung!), wäre folglich zu unterstellen, dass die infolge der Bonitätsverschlechterung eingetretene Verminderung des beizulegenden Zeitwerts von dauerhafter Natur ist. Ob diese Annahme realistisch ist, ist eine müßige (Meta-)Diskussion, die zur Sachverhaltsaufklärung nicht beiträgt, weil die Frage, ob/warum überhaupt eine Schuld zum beizulegenden Zeitwert bemessen wird, mit der Frage, wie dies zu erfolgen hat, vermengt wird.
Tz. 212
Stand: EL 37 – ET: 2/2019
Die Argumentationskette "Je schlechter es mir geht, desto mehr Ertrag weise ich aus" sieht auf den ersten Blick in der Tat pervers aus – man kann nur hoffen, dass ein Unternehmen sie nicht als Geschäftsdevise ausgibt. Man übersieht allerdings leicht, dass diese Aussage unvollständig ist, weil sie ausschließlich auf die Bewertung der Schuld und damit eine ceteris-paribus-Argumentation rekurriert und nicht danach fragt, welche anderen Effekte gleichzeitig auftreten und womöglich kompensierend wirken (vgl. Tz. 214). Ökonomisch ist der auftretende Erfolgseffekt nichts Neues: Eine gesunkene Bonität führt zu einem Kursrückgang oder allgemeiner: einer Minderung des beizulegenden Zeitwerts eines Finanzinstruments. Der Opportunitätsverlust (= Wertminderung) auf Seiten des Investors geht dabei mit einem Opportunitätsgewinn (= Ertragsbuchung) auf Seiten des Emittenten einher. Der Opportunitätsgewinn entsteht, weil der Schuldner die Verbindlichkeit weiterhin zu den Konditionen bedienen darf, die er ausgehandelt hat, als seine Bonität noch besser und d...