Gregor A. Bartle, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otto H. Jacobs
Tz. 95
Stand: EL 45 - ET: 11/2021
Der Nettoveräußerungswert (vgl. Tz. 25f.) ist der geschätzte Verkaufspreis zum Bewertungsstichtag im Rahmen des gewöhnlichen Geschäftsverkehrs abzüglich der geschätzten Kosten der Fertigstellung und der geschätzten notwendigen Verkaufskosten (IAS 2.6). Die Ermittlung des Nettoveräußerungswertes richtet sich nach den Verhältnissen des Absatzmarktes. Eine beschaffungsmarktorientierte Wertermittlung kennen die Vorschriften des IASB grundsätzlich nicht (aber vgl. Tz. 100). Ein Zwangs- oder Notverkauf ist nicht zu unterstellen (vgl. ADS Int 2002, Abschn. 15, Tz. 123).
Tz. 96
Stand: EL 45 - ET: 11/2021
Unter dem Nettoveräußerungswert ist nicht zwingend der aktuelle Verkaufswert in Form eines gegenwärtigen Marktpreises zu verstehen, zu dem der Vorratsgegenstand in seinem gegenwärtigen Zustand verkauft werden kann (vgl. Tz. 27ff.). Eine solche Interpretation würde bei Gegenständen, für die keine Verkaufsabsicht besteht oder ein Verkauf in ihrem derzeitigen Zustand nicht beabsichtigt ist, zu keinen sachgerechten Ergebnissen führen, wenn immer eine absatzmarktorientierte Stichtagswertermittlung durchgeführt würde. Bspw. hätten unfertige Erzeugnisse, die noch keinen oder einen zu vernachlässigenden Wert als Verkaufsprodukt haben und gleichzeitig keinen Wert mehr als Rohstoffe besitzen, einen Nettoveräußerungswert von null. Für eine Abwertung besteht allerdings keine Notwendigkeit, solange die Erzeugnisse, in welche die unfertigen Erzeugnisse eingehen, mindestens zu ihren Herstellungskosten verkauft werden können. Eine Abschreibung folgt zwar dem Vorsichtsprinzip (prudence principle) (F.37 (1989)), widerspricht jedoch dem going concern principle (F.23 (1989)). Da kein Anlass und keine Wahrscheinlichkeit besteht, die Stoffe selbst in ihrem derzeitigen Zustand zu verkaufen, ist der Betrag, zu dem die Stoffe verkauft werden könnten, unerheblich. In diesem Falle muss eine Abschreibung unterbleiben.
Tz. 97
Stand: EL 45 - ET: 11/2021
Als geschätzter Verkaufspreis ist der Erlös ohne Umsatzsteuer aus der Veräußerung anzusetzen. Davon sind Erlösschmälerungen abzuziehen. Ebenfalls in Abzug zu bringen sind die Produktionskosten (estimated costs of completion), die voraussichtlich noch anfallen werden, um den Vermögenswert herzustellen. Fraglich ist, wie diese Kosten abzugrenzen sind. Mit Verweis auf die grundsätzliche Bewertung zu Vollkosten innerhalb von IAS 2 erscheint es sachgerecht neben Einzelkosten bei der Bestimmung des Nettoveräußerungswerts auch sämtliche produktionsbezogenen Gemeinkosten zu berücksichtigen (zum Herstellungsbegriff des IAS 2 vgl. Tz. 42ff.; v. Keitz, in: Thiele/v. Keitz/Brücks (Hrsg.), Internationales Bilanzrecht, IAS 2, Rz. 227; Kümpel, 2005, S. 79). Darüber hinaus ist der verbleibende Wert um die geschätzten notwendigen Verkaufskosten, die bei marketing, selling and distributing anfallen, zu vermindern. Der Einbezug von verkaufsbezogenen Gemeinkosten ist in bestimmten Fällen möglich (vgl. v. Keitz, in: Thiele/v. Keitz/Brücks (Hrsg.), IAS 2, Rz. 228). Eine pauschalierte Berücksichtigung von Verkaufskosten im Rahmen erfahrungsbasierter Zuschlagssätze gilt als zulässig (vgl. Quick, DB 2008, S. 2210). Die in den Nettoveräußerungswert einzubeziehenden Verkaufskosten sind auch vom Vertriebskanal abhängig (z.B. stationärer Handel oder online). Nach einer Entscheidung des IFRIC vom 23. Juni 2021 ist der Umfang einzubeziehender Verkaufskosten nicht allein auf inkrementelle Kosten zu beschränken. Unter inkrementellen Kosten sind Kosten zu verstehen, die nur deswegen anfallen, weil eine bestimmte, einzelne Verkaufstransaktion durchgeführt wird. Inkrementelle Kosten sind meist der Ausgangspunkt für die Bestimmung der Verkaufskosten, es können jedoch weitere Kosten hinzukommen.
Der Nettoveräußerungswert am Bilanzstichtag ergibt sich damit wie folgt:
|
Geschätzter Verkaufserlös |
– |
Erlösschmälerungen |
– |
geschätzte noch anfallende Fertigungskosten |
– |
geschätzte noch anfallende Verkaufskosten |
= |
Nettoveräußerungswert zum Bilanztag |
Tz. 98
Stand: EL 45 - ET: 11/2021
Nach der Definition des Nettoveräußerungswerts handelt es sich um einen geschätzten Wert, was die Vermutung zuließe, dass auch zukünftige Preisschwankungen in die Überlegungen einbezogen werden können. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass IAS 2.30 vorschreibt, dass Preis- und Kostenschwankungen, die nach dem Stichtag auftreten, nur insoweit Berücksichtigung finden, als sie Bedingungen zum Bilanzstichtag bestätigen. Damit können nur wertaufhellende Ereignisse in die Schätzung des Nettoveräußerungswertes einbezogen werden, die zwischen dem Bilanzstichtag und dem Zeitpunkt der Bilanzerstellung auftreten (vgl. Tz. 103). Wertbeeinflussende Ereignisse nach Ende der Berichtsperiode bleiben dagegen außer Betracht (vgl. auch IFRS-Komm., Teil B, IAS 10, Tz. 21). Im Rahmen der Corona-Pandemie in den Jahren 2020/2021 und des damit verbundenen Lockdowns waren Unternehmen einer stark schwankenden Nachfrage ausgesetzt. Beispielsweise profitier...