Prof. Dr. Isabel von Keitz, Prof. Dr. Peter Wollmert
Tz. 34
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Gemäß dem ersten Ansatzkriterium von IAS 37 muss für das bilanzierende Unternehmen am Bilanzstichtag zunächst eine Verpflichtung bestehen. Dabei wird in IAS 37 – analog zum framework 2010 – zwischen rechtlichen und faktischen Verpflichtungen unterschieden. Rechtliche Verpflichtungen entstehen infolge eines privatrechtlichen Vertrags, gesetzlicher Vorschriften bzw. sonstiger rechtswirksamer Erlasse bzw. Verlautbarungen. Sie sind regelmäßig durch die exekutive oder judikative Gewalt ggf. zwangsweise durchsetzbar (vgl. auch Tz. 19). Faktische Verpflichtungen ergeben sich hingegen aus dem Geschäftsgebaren, öffentlichen Ankündigungen oder Ähnlichem, durch die bei Dritten die Erwartung der Erfüllung der Verpflichtung geweckt wird (IAS 37.10). Sie beruhen nicht auf einer vertraglichen oder gesetzlichen Grundlage, sodass üblicherweise kein Rechtsanspruch besteht. Vielmehr hat sich im Fall faktischer Verpflichtungen das Unternehmen selbst die Erfüllung einer Pflicht oder Verantwortung auferlegt (vgl. auch Tz. 20). Das Management eines Unternehmens kann sich faktische Verpflichtungen auf Basis von moralischen, sittlichen und/oder geschäftlichen Überlegungen selbst auferlegen, zB um gute Geschäftsbeziehungen zu pflegen oder der Branchenpraxis zu folgen (vgl. Pilhofer, 1997, S. 87; Schrimpf-Dörges, in: Beck IFRS-Handbuch, § 12, Tz. 43). Die Nichterfüllung der Verpflichtung würde möglicherweise zu einem wirtschaftlichen Nachteil (zB Reputationsverlust) des Unternehmens führen (vgl. Förschle/Holland/Kroner, 6. Aufl., 2003, S. 120).
Tz. 35
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Mit folgenden Beispielen wird das Vorliegen einer rechtlichen (Beispiel 1) bzw. faktischen (Beispiel 2) Verpflichtung verdeutlicht:
Beispiel 1 (in Anlehnung an IAS 37, Anh. C, Bsp. 2A):
Ein Unternehmen der Erdölbranche kontaminiert durch seine Geschäftstätigkeit die Böden seiner Erdölfelder. Aufgrund öffentlich-rechtlicher Gesetze ist das Unternehmen verpflichtet, kontaminierte Böden zu reinigen. Demnach liegt eine gegenwärtige rechtliche Verpflichtung vor, deren Erfüllung ggf. gerichtlich erzwungen werden kann. Sofern die sonstigen Ansatzkriterien vorliegen, ist eine Rückstellung zu passivieren. Zur Frage der Bewertung dieser Rückstellung sowie der Frage, ob hier eine Voll- oder Ansammlungsrückstellung anzusetzen ist (ausführlich vgl. Tz. 122 f.).
Beispiel 2 (in Anlehnung an IAS 37, Anh. C, Bsp. 2B):
Wie in Beispiel 1 kontaminiert ein Unternehmen der Erdölbranche durch seine Geschäftstätigkeit die Böden seiner Erdölfelder. Im Unterschied zu Beispiel 1 existiert allerdings keine gesetzliche Vorschrift, die das Unternehmen zur Reinigung der kontaminierten Böden verpflichtet. Das Unternehmen hat in der Vergangenheit allerdings öffentlich erklärt, dass es alle durch das Unternehmen kontaminierten Böden – ungeachtet der fehlenden gesetzlichen Vorschriften – reinigen wird. Aufgrund der öffentlichen Erklärung besteht eine faktische Verpflichtung zur Reinigung kontaminierter Böden, die – sofern auch die anderen Ansatzkriterien erfüllt sind – als Rückstellung zu passivieren ist.
Tz. 36
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Da insb. das Vorliegen einer nicht rechtlich durchsetzbaren Verpflichtung nicht immer eindeutig ist und sich somit ohne weitere Konkretisierung ein großer Ermessensspielraum bei der Rückstellungsbildung ergeben würde, hat der IASB vor allem an die Passivierungsfähigkeit von faktischen Verpflichtungen konkrete, objektivierbare Anforderungen gestellt (vgl. Förschle/Kroner/Heddäus, WPg 1999, S. 45), die in den folgenden Abschnitten erläutert werden.
Die folgenden Erläuterungen verdeutlichen aber auch, dass ein Ausschluss der Ermessensspielräume beim Ansatz von Rückstellungen für rechtliche und faktische Verpflichtungen nicht gelungen ist (vgl. ausführlich zu den Ermessensspielräumen beim Ansatz von Rückstellungen Kaiser, 2013, S. 206–210). Dabei ist indes zu konzedieren, dass die Unsicherheit dem Grunde (und der Höhe) nach ein inhärentes Merkmal einer Rückstellung ist. Zudem können Rückstellungen respektive unsichere Verpflichtungen aus den unterschiedlichsten Sachverhalten resultieren. Insofern können die weiteren Konkretisierungen der Ansatzkriterien des IASB für die Abschlussersteller und -prüfer nur zur Einschränkung der Ermessensspielräume, nicht aber deren Ausschluss führen (vgl. ähnlich Kayser, 2002, S. 90; für eine Diskussion und Analyse der Rückstellung als Instrument der Abschlusspolitik vgl. ausführlich von Torklus, 2007). Die Adressaten eines Abschlusses sollten bei deren Interpretation und Analyse die verbleibende Unsicherheit und Ermessensspielräume hinsichtlich des Ansatzes (und der Bewertung) von Rückstellungen bewusst berücksichtigen. Umso wichtiger ist uE aber auch eine stringente Differenzierung zwischen den Rückstellungen und den sonstigen Verbindlichkeiten, einschließlich der abgegrenzten Schulden (vgl. Tz. 17).