Prof. Dr. Isabel von Keitz, Prof. Dr. Peter Wollmert
Tz. 37
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Für die Rückstellungsfähigkeit muss eine gegenwärtige Verpflichtung vorliegen. Diese geforderte Gegenwärtigkeit besteht, wenn das Unternehmen am Bilanzstichtag die Pflicht oder Verantwortung für ein bestimmtes Leistungsverhalten hat (F.4.15 (2010)). Die Absicht, einen Vermögenswert in der Zukunft zu erwerben, stellt noch keine gegenwärtige, sondern eine künftige Verpflichtung dar. Erst wenn das Management den Vermögenswert bereits erhalten hat oder aber einen unwiderruflichen Kaufvertrag abgeschlossen hat, besteht eine gegenwärtige Verpflichtung (F.4.16 (2010); vgl. auch ADS Int 2002, Abschn. 18, Tz. 38). Insofern steht das Definitionsmerkmal der gegenwärtigen Verpflichtung in engem Zusammenhang mit dem im folgenden Unterabschnitt erläuternden Definitionsmerkmal "Resultat aus vergangenen Ereignissen" (dazu vgl. Tz. 41 ff.). Eine gegenwärtige, nicht erst künftige Verpflichtung liegt nämlich vor, wenn vergangene Geschäftsvorfälle oder andere Ereignisse der Vergangenheit eine solche Schuld begründet haben. Künftige Ereignisse, zB Abschluss eines Kaufvertrags oder Erhalt eines Vermögenswerts in der Zukunft, führen hingegen regelmäßig nicht zu gegenwärtigen, sondern zu künftigen Verpflichtungen.
Tz. 38
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
In einzelnen Fällen ist die Gegenwärtigkeit einer Verpflichtung unsicher (IAS 37.15), dh., es ist fraglich, ob eine Verpflichtung dem Grunde nach am Bilanzstichtag existiert. Typisches Beispiel hierfür sind gerichtlich anhängige Rechtsstreitigkeiten. So kann in einem Rechtsstreit über die Frage gestritten werden, ob überhaupt ein bestimmtes Ereignis in der Vergangenheit eingetreten ist und/oder ob das Ereignis zu einem Schadensersatzanspruch respektive einer Verpflichtung führt. In diesen Fällen hat das Management unter Berücksichtigung aller verfügbaren Hinweise (zB Sachverständigengutachten) zu entscheiden, ob am Bilanzstichtag eine gegenwärtige Verpflichtung vorlag oder nicht (IAS 37.16). Ein Unternehmen ist allerdings nicht verpflichtet, für alle am Bilanzstichtag anhängigen Rechtsstreitigkeiten ein Sachverständigengutachten einzuholen. Vielmehr reicht regelmäßig die Beurteilung der Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits durch den beauftragten Rechtsberater aus. Spricht aufgrund der bis zum Zeitpunkt der Abschlusserstellung vorliegenden Hinweise mehr für als gegen (more likely than not; ausführlich hierzu vgl. Tz. 59 f.) das Vorliegen einer gegenwärtigen Verpflichtung, ist – sofern die sonstigen Ansatzkriterien erfüllt sind – eine Rückstellung zu passivieren (vgl. IAS 37.16; IAS 37, Anh. C, Bsp. 10). Ist das Vorliegen einer gegenwärtigen Verpflichtung aufgrund der vorliegenden Hinweise hingegen unwahrscheinlich (geringer als 50 % Wahrscheinlichkeit), darf keine Rückstellung passiviert werden.
Tz. 39
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
Bei der Prüfung, ob eine gegenwärtige Verpflichtung (wahrscheinlich) vorliegt, sind auch alle wertaufhellenden Ereignisse nach dem Bilanzstichtag zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung des IAS 10.7ff. können auch erst nach dem Stichtag auftauchende Hinweise oder Gutachtenergebnisse werterhellend für die Rückstellungspassivierung sein (vgl. ähnlich Ernst & Young (Hrsg.), 2020, S. 1842). So ist zB die Zustellung nach dem Bilanzstichtag einer bis zum Bilanzstichtag eingereichten Klage oder der Ausgang eines Prozesses nach dem Bilanzstichtag bei der Beurteilung, ob eine gegenwärtigen Verpflichtung vorliegt, zu berücksichtigen (vgl. Hachmeister/Zeyer, in: Thiele/von Keitz/Brücks (Hrsg.), IAS 37, Tz. 149).
Tz. 40
Stand: EL 44 – ET: 06/2021
In der praktischen Anwendung ist die Frage, ob überhaupt eine Verpflichtung vorliegt, relevanter als die vom IASB gewählte Formulierung in IAS 37.16 ("in Ausnahmefällen") vermuten lässt. Denn bei anhängigen Gerichtsverfahren ist der Ausgang des Prozesses regelmäßig unsicher. Hierbei sollte berücksichtigt werden, dass zahlreiche Rechtsstreitigkeiten durch gerichtliche oder außergerichtliche Vergleiche enden (vgl. dazu Hoffmann, PiR 2013, S. 236). Da der Ausgang eines Prozesses und/oder Vergleichs häufig weder vom beauftragten Rechtsanwalt noch vom Management und erst recht nicht der Wahrscheinlichkeitsgrad vorhergesagt werden kann, bleibt dem bilanzierenden Unternehmen ein erheblicher Ermessensspielraum (vgl. hierzu ausführlich Lüdenbach/Hoffmann/Freiberg (Hrsg.), 18. Aufl., 2020, § 21, Tz. 30ff.). Allerdings sollte dieser systemimmanente Ermessensspielraum (vgl. auch Tz. 36) nicht gezielt ergebnisorientiert ausgeübt werden, sondern der Grundsatz der Neutralität bzw. Willkürfreiheit gewahrt bleiben. Ferner spielt das Vorsichtsprinzip beim Ansatz einer Rückstellung keine Rolle, wohl aber ggf. implizit bei der Bewertung (vgl. Küting, 2011, S. 72; Kaiser, 2013, S. 189).