Prof. Dr. Sven Hayn, Dr. Thomas Ströher
Tz. 113
Stand: EL 51 – ET: 10/2023
Auch Investoren ohne Stimmrechtsmehrheit haben zu prüfen, ob sie Verfügungsgewalt über ein Beteiligungsunternehmen besitzen (IFRS 10.B38). Zum einen können vertragliche Vereinbarungen (vgl. Tz. 125ff.) zur Verfügungsgewalt führen und zum anderen gibt es Situationen, in denen Verfügungsgewalt über Stimmrechte auch ohne die absolute Stimmrechtsmehrheit vorliegt. Zu dieser Situation können potenzielle Stimmrechte führen. Potenzielle Stimmrechte sind Rechte auf den Erwerb von Stimmrechten in einem Beteiligungsunternehmen (IFRS 10.B47). Beispiele für potenzielle Stimmrechte sind Stimmrechte, die aus der Ausübung einer Option oder der Wandlung eines wandelbaren Instruments resultieren. In die Beurteilung der Verfügungsgewalt sind somit Stimmrechte, potenzielle Stimmrechte und alle weiteren Entscheidungsrechte des Investors einzubeziehen (IFRS 10.B49).
Tz. 113a
Stand: EL 51 – ET: 10/2023
Potenzielle Stimmrechte sind bei der Beurteilung nur dann zu berücksichtigen, wenn es sich um substanzielle Rechte handelt (IFRS 10.B47; zu substanziellen Rechten vgl. Tz. 77 ff.). Dazu muss der Inhaber dieser Rechte praktisch in der Lage sein, diese Rechte auch auszuüben. Es sind alle potenziellen Stimmrechte zu berücksichtigen, die vom Tochterunternehmen ausgegeben wurden, auch die potenziellen Stimmrechte konzernfremder Unternehmen. IFRS 10 enthält keine Aussage mehr zu der Frage, ob der Wille bzw. die Absicht der Geschäftsleitung bei der Berücksichtigung potenzieller Stimmrechte eine Rolle spielt (nach IAS 27.15, IG8 (amend. 2008) wurde dies noch abgelehnt). Insofern ist nach IFRS 10 allein entscheidend, ob das potenzielle Stimmrecht substanziell ist. Bei dieser Beurteilung ist neben dem Zweck und der Gestaltung der potenziellen Stimmrechte und anderer Engagements des Investors in das Beteiligungsunternehmen auch zu berücksichtigen, wie die Vertragsbedingungen sind sowie die augenscheinlichen Erwartungen, Motive und Gründe des Investors in Bezug auf Vertragsbedingungen (IFRS 10.B48), aber eben nicht die Absicht des Investors in Bezug auf die Ausübung seiner potenziellen Stimmrechte.
Tz. 114
Stand: EL 51 – ET: 10/2023
Bei der Beurteilung, ob die potenziellen Stimmrechte substanziell sind oder nicht (IFRS 10.B47 iVm. IFRS 10.B22ff.), sind sämtliche relevanten Faktoren und Umstände zu beachten, vor allem auch Zweck und Gestaltung des jeweiligen Instruments, vor allem die Bedingungen ihrer Ausübung (IFRS 10.B48) sowie andere vertragliche Regelungen, sowohl einzeln als auch in ihrer Kombination. Hierzu gehören zB Bestimmungen, nach denen die Ausübung erst zu einem späteren Zeitpunkt (zB auf der nächsten Gesellschafterversammlung oder als Berechtigter einer europäischen Aktienoption) oder erst bei Eintritt eines bestimmten Ereignisses (zB Ausübung einer Berechtigung bei einer amerikanischen Aktienoption) erfolgt oder die Ausübung von der Genehmigung durch eine Kartellbehörde abhängt. Ebenso sind auch unbedingte Termingeschäfte auf den Erwerb von Stimmrechten bei der Beurteilung, ob Beherrschung vorliegt, zu berücksichtigen (vgl. Lüdenbach/Völkner, BB 2006, S. 2739ff.).
Tz. 115
Stand: EL 51 – ET: 10/2023
Hält der Investor zB 40 % der Stimmrechte eines Beteiligungsunternehmens und verfügt dieser über substanzielle Optionsrechte auf weitere 20 % der Stimmrechte, ist davon auszugehen, dass der Investor Verfügungsgewalt über das Beteiligungsunternehmen hat (IFRS 10.B50). Allerdings kann auch eine gegenwärtig ausübbare Option, die zu einem Stimmrechtsanteil von mehr als 50 % führen würde, unter Umständen noch nicht ausreichend sein, um Beherrschung über das Beteiligungsunternehmen zu erlangen. Vielmehr sind sämtliche Sachverhalte und Umstände bei der Beurteilung, ob Beherrschung vorliegt, zu berücksichtigen.
Tz. 116
Stand: EL 51 – ET: 10/2023
Bei der Beurteilung, ob das potenzielle Stimmrecht substanziell ist, sind üblicherweise folgende Kriterien zu berücksichtigen:
- Ausübungspreis, im Verhältnis zu den Marktbedingungen;
- finanzielle Möglichkeit der Ausübung;
- Zeitpunkt der Ausübung bzw. Länge der Ausübungsphase;
- Nutzen der Ausübung.
So ist zB zu beurteilen, ob die Option, zusätzliche Stimmrechte zu erwerben, "im Geld" oder "aus dem Geld" ist (IFRS 10.B50, Beispiel 9) oder ob ein Investor aus anderen Gründen Nutzen daraus ziehen könnte (zB durch die Realisierung von Synergien zwischen Investor und Beteiligungsunternehmen, die einen nachteiligen Ausübungspreis übersteigen, IFRS 10.B59, Beispiel 10).
Tz. 117
Stand: EL 51 – ET: 10/2023
Potenzielle Stimmrechte sind zu ignorieren, sofern ihnen ein wirtschaftlicher Gehalt fehlt, zB wenn der Ausübungspreis so hoch ist, dass eine Ausübung ausgeschlossen erscheint ("deeply out of the money"). Dies soll Bilanzpolitik durch Nicht-Einbeziehung bei Ausgabe von weit aus dem Geld liegenden Wandel- und Optionsverkaufsscheinen verhindern. Kaufoptionen, die zwar aus dem Geld sind, dh. der Ausübungspreis über dem Wert des Eigenkapitalinstruments liegt, es aber wirtschaftlich vorstellba...